Startseite > Schweizer Parteien > Parteien im Kanton Bern > Parteien im Kanton Bern

    «Über den Zustand und die Perspektiven des Landesrings der Unabhängigen (LdU) in der Schweiz und in der Stadt Bern»,
    Referat, gehalten an der ausserordentlichen Hauptversammlung der LdU-Ortsgruppe Bern vom 14. Oktober 1998.

    Lassen Sie mich – bevor ich Ihnen meine Analyse über den Zustand und die Perspektiven des Landesrings vortrage – eine Vorbemerkung machen.
    Ich muss zugeben, ich habe schon «erfreulichere» Referate gehalten als dasjenige, das ich Ihnen jetzt vortragen werde. Gerade in der Stadt Bern, in der  die RotGrünMitte-Parteien seit 1992 in den Wahlen immer wieder erfolgreich sind, ist es für mich meistens eine angenehme Aufgabe, vor die Sieger-Parteien zu treten und zu analysieren, in welchen Bereichen sie besonders erfolgreich gewesen sind und wo sie allenfalls noch etwas hätten zulegen können. Bei solchen Referaten spüre ich jeweils den «goodwill» und das Interesse der Zuhörenden, und meine Kompetenz wird kaum in Frage gestellt.
    Ein Überbringer von schlechten Nachrichten – und als einen solchen betrachte ich mich hier – hat es dagegen schwer: Skepsis schlägt ihm entgegen und die Stimmung ist schon zum vorne herein etwas getrübt. Dazu kommt, dass ich ein Aussenstehender bin und Ihnen eine Analyse präsentiere, welche auf kalten Fakten basiert. Bei Ihnen jedoch geht es in dieser Diskussion um mehr: Sie sind Mitglieder des LdU, und das heisst, Sie sind mit dem LdU emotional verbunden. Während ich mich im Gegensatz zu Ihnen damit begnüge, statistische Daten zu präsentieren, Entwicklungsmuster und -tendenzen aufzuzeigen, geht es für Sie um einen Teil Ihrer persönlichen politischen Geschichte: Sie haben sich einmal von den Idealen des LdU überzeugen lassen und Sie haben sich für die Verbreitung dieser Ideale eingesetzt. Wer dies für eine so kleine Partei wie den LdU macht, hat doppelten Idealismus – und entsprechend grosse emotionale Bindungen an den LdU.
    Ich bin mir bewusst, dass ich gerade diesen emotionalen Teil – ihre Gefühle, Erinnerungen und Wünsche – als aussenstehender Analytiker nicht berücksichtigen kann; das ist auch nicht meine Aufgabe. Ich werde Ihnen eine nüchterne Analyse der Situation des LdU vortragen, welche dazu beitragen soll, Ihnen Ihre Entscheidfindung zu erleichtern.

     
    Zur Situation des LdU. Ein politologisch-statistischer Überblick  

1 Der LdU auf der gesamtschweizerischen Ebene

    Tabellen 1.1 und 1.2

    1.1 Der LdU bei den Nationalratswahlen 1935 –1995

    Der LdU hatte seine guten Zeiten in den ersten 40 Jahren seiner Existenz (zwischen 1935–1975), besonders zwischen 1951–1975.
    Von 1939 bis 1975 erreichte der LdU bei den Nationalratswahlen Stimmenanteile zwischen 4,4% und 9,1%, von 1951 bis 1975 hatte der LdU im Nationalrat 10 bis 16 Mandate inne.
    Die stärkste Kantonalpartei des LdU war Zürich (1935 bis 1975: 5–9 Mandate; Höhepunkt: 1967: 23% aller Stimmen und 9 Mandate)
    Neben Zürich gab es vier solide Kantonalparteien: BE, BS, SG, AG
    Von den 143 Mandaten, die der LdU seit 1935 im Nationalrat innehatte, gingen über die Hälfte auf das Konto der Zürcher (80); die restlichen verteilten sich wie folgt:

    •  Bern (17)
    •  Basel (14)
    •  St. Gallen (15)
    •  Aargau (13)

    1.2 Der LdU bei den Nationalratswahlen 1995

    Der LdU trat noch in 7 Kantonen an: In Basel-Stadt verzichtete er gar auf eine Wahlliste (wo der LdU vorher fast immer ein Mandat geholt hatte). Das Wahlergebnis 1995 war ernüchternd: In jedem der sieben Kantone erreichte der LdU sein schlechtestes Wahlergebnis seit seiner Gründung.

    Tabellen 1.3 und 1.4
     

    1.3 Der LdU bei den Wahlen in die kantonalen Parlamente seit 1960

    Für die kantonalen Parlamentswahlen vor 1960 liegen die Daten noch nicht informatisiert vor; ich kann Ihnen daher nur die Ergebnisse ab 1960 präsentieren. Betrachten wir die Ergebnisse des LdU seit 1960, so gibt es folgende Parallelen zwischen den kantonalen Parlaments- und den Nationalratswahlen:

    • Der LdU hatte seine meisten Mandate bis Mitte der 70er Jahre (Höhepunkt: Ende der 60er Jahre); nachher gings bachab: Von den einst 107 Mandaten von 1968/1971 sind noch 15 geblieben.
    • Stärkste Kantonalpartei war Zürich (10–16%)
    • Vier solide Kantonalparteien: BE, BS, SG, AG

     

    1.4 Der LdU bei den Wahlen in die kantonalen Parlamente seit 1996

    Der LdU ist noch in 3 kantonalen Parlamenten vertreten: ZH, SG, AG. Die Wahlergebnisse sind die schlechtesten seit die Wahlergebnisse vorliegen (Ausnahme: ZH: 4,7%; 1991: 4,2%).

    Grafiken 1 und 2 (NRW und GRW
    )
     

    FAZIT zur Lage des LdU auf gesamtschweizerischer Ebene

    •  Dem LdU geht es so schlecht wie noch nie, und zwar in sämtlichen Kantonen, in denen er überhaupt noch präsent ist.
    •  Der Tiefpunkt, an dem der LdU angelangt ist, ist das Ergebnis eines negativen Prozesses, der schon seit 20 Jahren anhält. Der definitive und entscheidende Einbruch erfolgte in den 90er Jahren.
    •  Letzteres zeigte sich besonders deutlich beim LdU-Bern: Das Schicksal ereilte ihn in den 90er Jahren: Er – einst eine der vier soliden Stützen des LdU-Schweiz  – ist aus dem Nationalrat und aus dem Grossen Rat gefallen (vgl. auch das ähnliche Schicksal der zweiten soliden Stütze: LdU-BS).
    • Der LdU ist wieder eine Zürcher-Partei geworden (Grafik 3: Hochburgen)

     
     
     

2 Der LdU im Kanton Bern

 

Um die Lage des LdU im Kanton Bern zu analysieren, können wir nochmals die Daten der Nationalratswahlen und der kantonalen Parlamentswahlen (Grossratwahlen) verwenden:

Tabellen 2.1 und 2.2

Der LdU-Bern bei den Nationalrats- und den Grossratswahlen

Die Parallelen zu den gesamtschweizerischen Entwicklungen sind frappant:

  • Erfolge in den ersten 40 Jahren, besonders in den 30er und den 60er/70er Jahren (1951-1971: meistens 2 NR-Mandate; Parteistärke rund 5-7%).
  • Tendenzieller Rückgang seit 1970 (Aufbäumen bei den «grünen Hoffnungswahlen» 1987; davon profitierte auch der grüne LdU).
  • Einbruch in den 90er Jahren: 1995 (NRW) und 1998 (GRW) erzielte der LdU-Bern die schlechtesten Ergebnisse seiner Geschichte.
    •  Der 1991 verlorene Sitz im Nationalrat konnte 1995 nicht zurückgeholt werden. Die Tradition, wonach der LdU-Bern 1–2 Mandate im Nationalrat innehat, bleibt unterbrochen/abgebrochen.
    • 1998 verabschiedet sich der LdU erstmals seit seiner Gründung aus dem Grossen Rat.
    • Der LdU-Bern ist weder auf kantonaler noch auf eidg. Ebene in einem Parlament mehr repräsentiert.
  • Erfolge bis Mitte der 70er Jahre: 1943–1976: Stimmenanteil zwischen 6.1% und 13.3% (5 bis 11 Mandate).

  • Der LdU war von 1943 bis 1976 im Berner Stadtparlament die stärkste Mitte-Partei; darauf wurde er vom Jungen Bern bzw. von GFL abgelöst.

  • Rückgang seit 1976:

    • 1980: unter 4%;
    • 1988: unter 3%.
    • 1996: 2,5% (trotz optimaler Claudia Omar-Kandidatur und der Wahl von Claudia Omar in die Berner Stadtregierung).

     Tabelle: Synthese

     

    BEFUND

    Der Befund zur Lage des LdU ist klar und eindeutig:

    • Die einst (bis in die 70er Jahre) stärkste Mitte- (und Oppositions-)-Partei ist seit zwanzig Jahren auf der Verliererstrasse.

    • Völlig eingebrochen ist der LdU in den 90er Jahren. Der LdU befindet sich nun auf dem Tiefpunkt: Wo der LdU überhaupt noch zu Wahlen antritt, kassiert er die schlechtesten Ergebnisse seiner Geschichte. Es gibt keinerlei Indizien für eine «Besserung».

    • Aufgrund der marginalen und einseitigen Verankerung in den Kantonen (Präsenz noch in 3 kantonalen Parlamenten) kann der LdU nicht mehr als nationale Partei gelten; er ist eine Zürcher Partei mit Ablegern in zwei bis drei Kantonen.

     

    SCHLUSSBEMERKUNG

    Dass eine Partei in der Demokratie ihre Mission einbüsst, dass ihre Ideen und Rezepte veralten und dass sie abgewählt wird – das ist normal. Parteien mit überholten Rezepten verlieren Wahlen und verschwinden allmählich von der politischen Bühne.

    Beim LdU trifft dies so nicht zu: Es ist irritierend, festzustellen, dass der LdU einerseits permanent Wahlen verliert und andrerseits eigentlich die meisten politischen Merkmale auf sich vereinigt, die heute erfolgsversprechend sind:

      •  Politik wird heute immer mehr personalisiert – der LdU politisiert seit jeher mit Personen und Köpfen

      •  Erfolgversprechend für fortschrittliche Parteien sind die politischen Prädikate «liberal» – «sozial»; aber auch «frauenfreundlich» (und wohl bald auch wieder: «ökologisch»). Der LdU führt diese Slogans seit langem in seinen Programmen.

    Warum hat diese Qualitäten des LdU in den letzten 20 Jahren niemand bemerkt und honoriert?
    Ich kann hier nur festhalten: Das war nicht der Fall. Der LdU trägt im Gegenteil seit bald zwanzig Jahren das unattraktive Verliererimage, und ich bin sicher, dass es dem LdU nicht mehr gelingen wird, dieses abzustreifen. Wir haben es gewissermassen mit gutem Wein in alten Schläuchen zu tun.

    Ich bin nicht mandatiert, Ihnen Ratschläge für Ihre politische Zukunft zu erteilen. Zwei Punkte möchte ich trotzdem erwähnen:

      • Der LdU hatte in der Geschichte der politischen Schweiz eine belebende Funktion; mit seinen unkonventionellen Köpfen – von Alfred Rasser bis Trudi Gerster – war er ein Farbtupfer in der Parteienlandschaft. Noch in den 80er Jahren zeigte der LdU, dass er das geistige Potential hat, auf neue Fragestellungen in einer eigenen Art zu reagieren (Ökologie) – doch er fand kaum mehr Gehör; seine Zeit schien damals schon abgelaufen zu sein.

      • Für mich ist klar: Der LdU ist als Partei aus der politischen Agenda gestrichen. Ich denke, es liegt an Ihnen, ob Sie die Herausforderung annehmen wollen, Ihre politischen Ideen, Ihre Konzepte und Programme in einem anderen Gefäss weiterleben zu lassen oder ob Sie Ihre Ideen mit dem Leidensweg des LdU weiter verbinden wollen und allmählich der Selbstauflösung preisgeben wollen.