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Der Bund, 5. Mai 1998
Werner Seitz*


Wer politisiert bedarf der «politischen Kultur»
Der Begriff «politische Kultur» hat sich an vielen Orten eingebürgert: Im politischen Alltag, in politischen Kommentaren und auch in der Sozialwissenschaft ist von ihr die Rede. Häufig jedoch wird «politische Kultur» beliebig verwendet. Woher stammt der Begriff, weshalb entzieht er sich einer genauen Definition, und was bedeutet politische Kultur wirklich?

«Politische Kultur» zu haben, gehört in unserer Gesellschaft eindeutig zu den wünschenswerten Eigenschaften. Niemand setzt sich freiwillig – und ohne sich dagegen zu wehren – dem Vorwurf aus, es mangle ihm an politischer Kultur. Welchen Stellenwert politische Kultur hat, wird auch daran deutlich, wie der Begriff im Alltag verwendet wird. Es folgen drei Beispiele aus dem letzten Jahr:

    Im November 1997 gründeten in Zollikofen die vier grossen Ortsparteien (FDP, CVP, SP und SVP) ein überparteiliches Initiativkomitee, um eine gemeinsame Kampagne für ein vollamtliches Gemeindepräsidium zu führen. «Der Bund» übertitelte seine Berichterstattung mit «Parteien läuten neue politische Kultur ein».
    Im letzten Herbst machten sich bei der eidg. Finanzdebatte über die «Haushaltsziele 2001» vor allem jene Nationalräte für eine rigide Sparpolitik stark, welche noch eine Woche zuvor grosszügig Rüstungsausgaben bewilligt hatten. Dies ärgerte den Bundeshausredaktor der «SonntagsZeitung», der diese «Sparapostel» in einem Kommentar kritisierte. Er verlieh dabei nicht nur seiner Sorge um schlimme Folgen für den politischen Diskurs Ausdruck: Er sah geradezu den «Untergang der politischen Kultur» nahen.
    Einige Wochen vorher tauchte in derselben Zeitung gar ein «Un-Begriff» auf. Ein Berichterstatter rügte die Rundumschläge von Christoph Blocher gegen Schweizer Intellektuelle wie Adolf Muschg (im Zusammenhang mit den Diskussionen über die Rolle der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges) und bemerkte, dass solche Attacken nicht nur von den Linken verurteilt würden: «Auch Bürgerliche distanzieren sich inzwischen von solcher politischer Unkultur.»
Was ist das für eine «politische Kultur», die von Parteipräsidenten einer Gemeinde neu begründet, die angesichts inkonsequenter Entscheidungen untergehen und die von einer missliebigen Person in ihr Gegenteil verdreht werden kann?

Der deutsche Kulturbegriff
Solche Beispiele für die Verwendung des Begriff der politischen Kultur sind namentlich im deutschen, nicht jedoch im angloamerikanischen Sprachraum anzutreffen. Der Grund dafür liegt im deutschen Kulturbegriff, der eine andere Bedeutung hat als das englische «culture». Der deutsche Kulturbegriff hat hauptsächlich mit Sinnstiftung, Ästhetik und Moral zu tun, wobei meistens ein etwas moralisierender und elitärer Unterton mitschwingt. Dagegen bezeichnet das englische «culture» wertneutral Formen der Lebensäusserungen bzw. die gesamte Lebensweise der Menschen: Angefangen von der Art des Zähneputzens über die Regeln des Fussballspiels und des Wahlsystems bis hin zur 9. Symphonie Beethovens oder zur Bibel. Dieser umfassende Kulturbegriff kommt auch in den Sozialwissenschaften zur Anwendung.
Soll der Begriff der politischen Kultur korrekt und vernünftig verwendet werden, so muss er ebenfalls umfassend und wertneutral sein. Die politische Kultur ist also etwas anderes als ein Ausdruck für etwas Edles oder etwas besonders Gutes; auch nationalsozialistische oder faschistische Gesellschaften haben eine politische Kultur.
 
 

 

Was ist und was bedeutet «politische Kultur»?
«Politische Kultur» besteht im wesentlichen aus den grundlegenden Vorstellungen darüber, was überhaupt politisch ist und was zur Politik gehört. Sie besteht weiter auch aus einem Konglomerat von Kenntnissen, Gefühlen und Wertvorstellungen, welche die Menschen in bezug auf das politische System und die Politik überhaupt haben.
Etwas vereinfacht gesagt ist die politische Kultur die «psychologische» und «subjektive» Dimension der Politik.

Gemeinsamkeiten trotz Streit
Einer gemeinsamen politischen Kultur anzugehören bedeutet nicht, dass alle Personen eines Verbandes die gleichen politischen Interessen haben und in politischen Fragen dieselbe Meinung vertreten. Es bedeutet nur, dass diese Personen nicht aneinander vorbeireden, dass sie instinktiv wissen, worum es sich handelt, selbst wenn sie sich erbittert bekämpfen – eben weil sie über die gleichen Sinn- und Zeichensysteme verfügen.

Die Gefahr des «Formalismus»
Die beiden amerikanischen Politikwissenschafter Gabriel A. Almond und Sidney Verba, welche die heutige «Politische Kultur»-Forschung begründeten, sahen den Hauptgrund für die politische Instabilität der meisten Demokratien Kontinentaleuropas in den zwanziger und dreissiger Jahren wie auch der neu entstandenen Staaten der Dritten Welt im sogenannten «Formalismus». Sie verstanden darunter das Phänomen, dass in einer Gesellschaft zwar – formal – ein demokratisches politisches System existierte, dass die entsprechenden politischen Rollen aber von den Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern nicht adäquat interpretiert würden. 

Forschungsergebnisse
Die «Politische Kultur»-Forschung hat gezeigt, dass die wirtschaftliche und die gesellschaftliche Modernisierung nicht ausreichen, um eine Demokratie am Leben zu erhalten; mindestens so wichtig sind demokratisch denkende und demokratisch fühlende Staatsbürgerinnen und Staatsbürger.
 

Forschungsursprünge
Die ersten wissenschaftlichen Untersuchungen über die politische Kultur entstanden in den fünfziger und sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts in den USA und gingen zwei Fragen nach:

    Warum brachen die liberalen Demokratien in den zwanziger und dreissiger Jahren in Kontinentaleuropa sukzessive zusammen, während die angelsächsischen liberalen Demokratien gegenüber totalitären Strömungen resistenter waren?
    Wie können jene Staaten, die im Zuge der Entkolonialisierung entstanden waren, in Richtung einer liberalen Demokratie «gefördert» werden? Ein besonderes Augenmerk warfen die amerikanischen Forscher auch auf die Bundesrepublik Deutschland, welche im Rahmen des «reeducation»-Programms der Nachkriegszeit zu stabilen politischen Verhältnissen geführt werden sollte.
Die Grundfrage der «Politische Kultur»-Forschung war also die Frage nach den Bedingungen für politische Stabilität, namentlich der liberaldemokratischen Systeme.
Die amerikanischen Politikwissenschafter waren in den fünfziger Jahren nicht die ersten, welche die Frage nach der politischen Kultur bzw. nach der Wechselwirkung zwischen politischer Stabilität, politischer Kultur und politischem System stellten. Bereits die alten Griechen – allen voran Aristoteles – machten sich Gedanken über die Bedingungen für politische Stabilität. Aus der neueren Zeit kann etwa Alexis de Tocqueville (1805–1859) als Vorläufer der «Politische Kultur»-Forschung angesehen werden, der in verschiedenen Studien über das Ancien Régime und die französische Revolution sowie über Amerika die kulturelle Basis der Politk untersuchte.

Kernthema Politische Stabilität
Als erstes und bekanntestes Werk der heutigen «Politische Kultur»-Forschung gilt «The Civic Culture», welches der amerikanische Politologie-Professor Gabriel A. Almond zu Beginn der sechziger Jahre mit dem jungen Politikwissenschafter Sidney Verba verfasste. Zentraler Untersuchungsgegenstand in «The Civic Culture» waren die psycho-sozialen Existenzbedingungen der Demokratie.
Auf der Basis von je 1000 Interviews analysierten Almond/Verba die politische Kultur aufgrund der Grundüberzeugungen, Werte, Einstellungen und Verhaltensmuster in fünf Ländern (USA, England, Bundesrepublik Deutschland, Italien und Mexiko). Ziel dieser Analyse war es, die verschiedenen politischen Kulturen in bezug auf ihre «Demokratieverträglichkeit» und ihren Beitrag zur politischen Stabilität zu typisieren.
Anschliessend kreierten Almond/Verba einen Idealtypus jener politischen Kultur, welche der liberalen Demokratie optimale Stabilität garantierte: «civic culture». In diesem Typus haben sich traditionelle Elemente (wie Gehorsam und Passivität der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger) mit modernen Elementen (wie dem Willen, sich aktiv an der Politik zu beteiligen) organisch miteinander vermischt. Bei genauerem Hinsehen weist diese «Mischung» jedoch ein deutliches Übergewicht des passiven Elementes der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger auf und ein deutliches Übergewicht der Regierung, was darauf hinweist, dass Almond/Verba bereit sind, die Mitsprache der Bürger zugunsten einer effizienten Regierungstätigkeit zurückzubinden.

Elemente politischer Kultur
Untersuchten Almond/Verba die politische Kultur vor allem «instrumentell», das heisst unter dem Aspekt ihres Beitrags zur politischen Stabilität, so versuchen andere Wissenschafter, die politische Kultur in bezug auf ihre Bestandteile zu erfassen (Karl Rohe) oder sie in bezug auf die Entstehung ihrer Inhalte zu verstehen (Hans-Georg Wehling).
Der deutsche Politologie-Professor Karl Rohe definiert die politische Kultur als «mind set», welches die Möglichkeiten eines Kollektivs festlegt, die politische Welt wahrzunehmen, zu bewerten und in ihr zu handeln. Die politische Kultur besteht also aus Möglichkeiten und Prinzipien und bestimmt den Rahmen, in dem das politische Handeln einer Gesellschaft stattfindet.
Dabei ist es charakteristisch für die politische Kultur, dass sie derart fundamental ist, dass sie den einzelnen Menschen meistens gar nicht als solche bewusst ist, sondern ihnen alternativlos als «natürlich» und «selbstverständlich» erscheint. Die politische Kultur wird oft erst in dem Moment ihrer Selbstverständlichkeit beraubt, in dem sie – durch räumliche oder zeitliche Vergleiche – auf andere politische Kulturen und die in diesen gespeicherten «Selbstverständlichkeiten» stösst.
Rohe unterscheidet zwei Elemente der politischen Kultur: die Sozialkultur und die Deutungskultur. Die Sozialkultur ist – ähnlich wie die Sprache – etwas Überindividuelles, welches bereits vorliegt und in welches die einzelnen Menschen in ihrer Kinheit und ihrer Jugend «hineinsozialisiert» werden. Die Sozialkultur besteht aus alltäglichen und undiskutierten Selbstverständlichkeiten.
Soll die Sozialkultur einer Gesellschaft überleben, so muss sie permanent gepflegt werden. Dies leistet die Deutungskultur, welche nach Rohe zwei Aufgaben hat: Einerseits muss sie die Sozialkultur thematisieren und diese gelegentlich ihrer Selbstverständlichkeit berauben, und andrerseits muss sie neue kulturelle Selbstverständlichkeiten schaffen. Diese ständige Pflege und Aktualisierung durch die politische Deutungskultur ist essentiell für jede politische Kultur.

Inhalte der politischen Kultur
Mehr für die Inhalte denn für die Bestandteile der politischen Kultur interessiert sich der Historiker und «Regionenforscher» Hans-Georg Wehling. Er versteht die politische Kultur als etwas, das sowohl regional wie auch historisch geprägt ist.
Als die wichtigsten dieser Faktoren gelten:

    die geographischen Bedingungen und die wirtschaftlichen Verhältnisse;
    die obrigkeitlich-staatlichen Erziehungsvorschriften, die während Jahrhunderten die Mentalität der Menschen einer Region prägten;
    die Konfession sowie
    kollektive Schlüsselerlebnisse wie Revolutionen, Besetzungen durch fremde Truppen oder Naturkatastrophen.
Wesentlich ist dabei nicht, wie sich diese Ereignisse objektiv zugetragen haben, sondern wie diese von den betroffenen Menschen wahrgenommen und verarbeitet worden sind. So gesehen besteht das «kollektive Gedächtnis», welches die politische Kultur darstellt, durchaus auch aus Mythen und Bildern, die keinen oder nur einen bedingten historischen Wahrheitsgehalt haben.
Genauso wie die politischen Kulturen nicht zwingend historische Realitäten abbilden, so müssen sie auch nicht ideologisch konsistent sein. Vielmehr überlagern sich in der politischen Kultur eine Reihe von Elementen, die sich auch widersprechen und die auch (räumlich oder zeitlich) verschiedene Bezugsdimensionen haben.
Damit wird die Vorstellung einer politischen Kultur, die das politisches Verhalten determiniert, etwas relativiert: Es besteht nämlich die Möglichkeit, – im Hinblick auf ein gewünschtes politisches Verhalten – einige Facetten des «kollektiven Gedächtnisses» zu aktivieren, indem gewisse Elemente miteinander verknüpft und andere ausgeklammert werden.