Berner Gemeindewahlen 1996

Drei Viertel der laufenden Legislaturperiode in der Stadt Bern sind vorüber, am 1. Dezember 1996 sind Wahlen. Was hat das Rot-Grün-Mitte-(RGM-)Bündnis in Stadt- und Gemeinderat gebracht? Wird das Mitte-Links-Experiment in der Bundesstadt weitergehen?
Der Politologe Werner Seitz* über Bilanz und Zukunft von RGM

 
Hat sich RGM verbraucht, oder wird das Mitte-Links-Bündnis 1996 nochmals siegen? «Entscheidend ist breit abgestützte Gemeinderatsliste»,
in Der Bund, 30. Dezember 1995 (Interview: Jürg Müller, Bild: Monika Flückiger).


«BUND»: Vor einem Jahr haben Sie in einem Interview gesagt, die RGM-Koalition stecke nach einer Phase enthusiastischen Politisierens in einer Phase der Ernüchterung. In welcher Phase steckt das Bündnis jetzt?
WERNER SEITZ: RGM ist derzeit in einer Phase der Bilanzierung und der Planung. Die einzelnen Parteien fragen sich, was das Bündnis gebracht, ob sich das Zusammengehen aus der Sicht der einzelnen Partner gelohnt habe oder nicht und vor allem, ob die Koalition weitergeführt werden soll. Es ist auch möglich, dass eine Partei aussteigt und sich gar neue Allianzen bilden.

«BUND»: Ist das tatsächlich zum jetzigen Zeitpunkt noch möglich?
Seitz: Möglich ist im Moment alles. Immerhin hat aber die Parteienkonferenz im September beschlossen, RGM grundsätzlich weiterzuführen. Der entscheidende Punkt dürfte die Gestaltung der Gemeinderatsliste sein. Wenn sich alle hinter eine gemeinsame Liste stellen können - vor allem auch diejenigen, die zurückkrebsen müssen, denn es kommen ja nicht alle Parteien zum Zug -, dann besteht das Bündnis weiter.

«BUND»: Drei Viertel der Legislaturperiode mit einer RGM-Mehrheit in Stadt- und Gemeinderat sind vorüber. Wo liegen die Stärken, wo die Schwächen des Bündnisses?
Seitz: Die grosse Stärke ist eindeutig die interne Diskussionskultur unter den Bündnispartnern. Bisher haben 33 Parteienkonferenzen stattgefunden, bei denen trotz Differenzen in Sachfragen immer im Konsensverfahren entschieden worden ist.
Nicht gelungen ist es RGM allerdings - und das ist die grosse Schwäche - , diese Diskussionskultur auch nach aussen zu tragen. Es ist nicht gelungen, mit den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern in einen fruchtbaren Kontakt zu treten. Ausdruck davon sind die gescheiterten Vorlagen. Und es ist RGM auch nicht gelungen, mit dem liberalen Flügel der Bürgerlichen zu kommunizieren. Allerdings zeigte dieser auch keine grosse Neigung, mit RGM in Sachfragen punktuell zusammenzuarbeiten. Damit hat sich ein Blockdenken gebildet, das immer stärker geworden ist.

«BUND»: Dann stimmt der bürgerliche Vorwurf an die Adresse von RGM also doch, RGM betreibe Blockpolitik.
Seitz: Teilweise schon, RGM hat hie und da die Muskeln spielen lassen und ihre knappe Mehrheit auch ausgenützt. Aber es gibt natürlich Fragen, bei denen sich die RGM-Parteien alles andere als einig sind - denken Sie nur an den Planungsbereich. Den RGM-Block gibt es also nicht. Anderseits darf nicht vergessen werden, dass bei sämtlichen umstrittenen RGM-Vorlagen die Bürgerlichen zusammen mit den Rechten ebenfalls als Block aufgetreten sind. Bei der Quotenvorlage etwa ist eine klare Abwehrfront aufgebaut worden, obschon liberale Bürgerliche durchaus für das Thema hätten gewonnen werden können.

«BUND»: Zum Inhaltlichen: Wie sieht die Bilanz gemessen an der sehr ehrgeizigen Wahlplattform von 1992 aus?
Seitz: Bei dieser Plattform muss man etwas aufpassen: Das ist nicht der kleinste, sondern der grösste gemeinsame Nenner zwischen den RGM-Parteien. Das sind Maximalforderungen, die von günstigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ausgehen und zudem nicht in einer einzigen Legislaturperiode umgesetzt werden können. Trotzdem: Es gibt handfeste Erfolge. In der Bildungspolitik ist einiges gelaufen, Stichworte Schulreglement, Oberstufenreform, Integration Untergymnasium, Blockunterricht, Tagesschulen. In der Drogenpolitik sind die Versuche der kontrollierten Abgabe von Heroin angelaufen. Sehr erfolgreich gestartet ist das Projekt Neue Stadtverwaltung Bern, das New Public Management. Trotz Finanzknappheit hat Bern ein Gleichstellungsbüro eröffnet, während diese Institutionen an anderen Orten derzeit wieder geschlossen werden. In der Finanzpolitik ist die Bilanz etwas durchzogen. Immerhin ist das Defizit, verglichen mit dem letzten bürgerlichen Budget, massiv reduziert worden, ohne gleichzeitigen Abbau von wesentlichen Dienstleistungen.
Zu den negativen Punkten zählen die gescheiterten Volksabstimmungen. Beim Stromsparrappen und auch bei anderen Vorlagen hat man zuwenig Überzeugungsarbeit geleistet. Gegenüber der Wahlplattform zuwenig zur Geltung gekommen ist die Randgruppenproblematik: So ist meines Erachtens beispielsweise die Zwischennutzung von leerstehendem Wohnraum fallengelassen worden.

«BUND»: Das RGM-Bündnis war in den Abstimmungskämpfen meist nicht sehr präsent, hat sich selbst für ureigene Anliegen in der Öffentlichkeit nicht besonders engagiert. Warum nicht?
Seitz: Das ist ein echtes Problem. Sobald RGM-Anliegen zur Abstimmung kommen, stellt sich immer die Frage, wer sich jetzt engagieren soll. Denn RGM ist eine Allianz von Parteien, und Parteien haben immer auch ein Interesse, sich zu profilieren. Dann kann es passieren, dass man eine Kampagne jener Partei überlässt, die am meisten mit der entsprechenden Forderung identifiziert wird. Mir ist keine Abstimmungskampagne bekannt, in der sich das gesamte Bündnis geschlossen engagiert hat.

«BUND»: Aber warum klafft das Wahl- und Abstimmungsverhalten denn so stark auseinander? Warum wählte eine Mehrheit 1992 links-grün und unterstützt die daraus resultierende Politik praktisch nie?
Seitz: Es ist ein allgemeines Phänomen, dass das Wahl- und das Abstimmungsverhalten nicht identisch sind. Darunter leidet nun RGM enorm, die Bürgerlichen nützen dies natürlich sehr geschickt aus. Man muss sich auch vor Augen halten, wer die RGM-Parteien gewählt hat: Idealtypisch gesprochen sind das der Gewerkschafter in Bümpliz und die ökologische Feministin im Breitenrain; möglicherweise haben sie sogar die gleiche Partei unterstützt. Vertritt nun diese Partei eine bestimmte Vorlage, so kann in den meisten Fällen nicht mehr das gleich breite Spektrum angesprochen werden wie bei den Wahlen. Beim Budget ist es nochmals etwas anders: Früher wurden die meisten Budgetvorlagen ohne allzu grosse Diskussion durchgebracht, nicht zuletzt weil auch die SP dahinter stand. Heute macht ein relativ geschlossener Block - die Bürgerlichen und Rechten - Front dagegen.

«BUND»: Nicht immer optimal scheint das Verhältnis auch zwischen den RGM-Mitgliedern des Gemeinderates und den RGM-Stadträten zu sein. Fallen die RGM-Fraktionen den eigenen Gemeinderäten nicht etwas oft in den Rücken?
Seitz: Sicher ist der Kontakt zwischen den Exekutiv- und den Legislativmitgliedern nicht optimal. Die RGM-Stadträte sahen sich verschiedentlich vor ein fait accompli gestellt, was entsprechende Reaktionen auslöste. Weiter glaube ich, dass die links-grünen Gemeinderätinnen und -räte ein natürlicheres Verhältnis zu ihrer Mehrheitsrolle gefunden haben als die Stadträtinnen und Stadträte. Die Regierungsmitglieder schliessen leichter Kompromisse. Die links-grüne Parlamentsmehrheit dagegen hat ihre Oppositionsrolle immer noch nicht ganz abgestreift. Viele RGM-Stadträtinnen und -Stadträte haben nach wie vor Mühe mit der Tatsache, dass sie jetzt in der Mehrheit sind. Parlamentarische Mehrheit bedeutet nämlich auch, dass man nicht mehr ideologisch lupenreine Politik machen und dabei «in Schönheit sterben» kann, sondern dass man auch einmal - zusammen mit dem Gemeinderat - eine Vorlage durchziehen muss, die einem vielleicht nicht bis ins letzte Detail passt.

«BUND»: Beim Gemeinderat selbst hat man eigentlich den Eindruck - jedenfalls soweit man es von aussen beurteilen kann -, dass ein gutes Klima herrscht. Das Gremium tritt geschlossen auf, es gibt kaum Brüche des Kollegialitätsprinzips, was ja keine Selbstverständlichkeit darstellt. Woran liegt das?
Seitz: Die Konsensfindung scheint ein zentrales Anliegen des Gemeinderates und des Stadtpräsidenten zu sein. Ich vermute auch, dass die Abstimmungsverhältnisse dort nicht immer vier zu drei sind - entsprechend den Mehrheitsverhältnissen -, sondern auch mal sechs zu eins oder ähnlich. Es gibt wohl durchaus wechselnde Allianzen in zahlreichen Fragen.

«BUND»: Das Spektrum der Mitte-Links-Allianz ist recht breit, es geht von der EVP in der Mitte bis zum Grünen Bündnis auf der Linken. Dominierend sind aber die links-grünen Kräfte. Kommen die Anliegen der Mitte überhaupt noch zur Geltung?
Seitz: Doch, ich denke schon. Bei den Wahlen von 1992 hatte die Mitte mit ihrem Gemeinderatskandidaten Otto Mosimann (evp) eine gute Chance, es war ein Entscheid der Wählerschaft, Therese Frösch (gb) vorzuziehen. Otto Mosimann wurde dann mit dem Stadtratspräsidium entschädigt. So gesehen ist die Mitte voll integriert. Aus dieser Sicht hat die durch den Rücktritt von Joy Matter entstandene Vakanz etwas Positives, weil bei einer Kandidatur von vier Bisherigen die Mitte auf dieser Liste keine Chance gehabt hätte. Wenn nun EVP und LdU eine Kandidatur stellen und sie ihre Basis mobilisieren, können sie möglicherweise gar den Sitz des Jungen Bern Freie Liste (JBFL) übernehmen. Zudem weiss die ganze Koalition, dass die Mitte zwar eine kleine, aber wichtige Partnerin ist, die für die Erhaltung des Bündnisses sehr zentral ist. Die Mitte ist in den letzten drei Jahren nie bedrängt oder erdrückt worden; hie und da geht sie auch ganz bewusst eigene Wege, ist nicht immer RGM-konform.

«BUND»: Die SP als stärkste Partnerin hat demnach die kleineren Parteien nie zu dominieren versucht.
Seitz: RGM kann nur bestehen dank einer SP, die sich selbst zurückhält. Die SP hat - wie übrigens auch das Grüne Bündnis - sehr viel für die Koalition getan, nicht zuletzt dank ihrem vorsichtigen Umgang mit den kleineren Parteien. Sie hat ihre Stärke wirklich nie voll ausgespielt - obschon RGM ohne SP völlig undenkbar wäre, allein schon von den Kräfteverhältnissen her.
Nun gibt es aber auch Kreise in der SP, die bei den laufenden Gesprächen um die Gestaltung der gemeinsamen RGM-Gemeinderatsliste - neben den beiden Bisherigen - eine dritte Kandidatur stellen möchten, etwas, das nach allgemeiner Ansicht das Bündnis sprengen könnte.
Die SP hat das grösste Wählerpotential, sie würde also bei einer dritten Kandidatur diesen Sitz wahrscheinlich auch gewinnen. Diese Perspektive dürfte die kleineren Parteien demotivieren und das RGM-Bündnis gefährden. Deshalb ist hier sehr vorsichtig vorzugehen.

«BUND»: Wagen Sie eine Prognose für den Wahlausgang am 1. Dezember 1996? Wird es RGM nochmals schaffen? Oder deuten die verschiedenen Abstimmungsniederlagen auf eine Wahlniederlage hin? Immerhin sind ständige Abstimmungsniederlagen nicht gerade imagefördernd.
Seitz: Wenn man die jüngsten Nationalratswahlen als Vergleichsbasis nimmt, dann ist es klar: Das Potential von RGM ist nach wie vor vorhanden. 1991 waren es rund 51, 1995 gar rund 54 Prozent, die in der Stadt Bern eine Partei aus dem RGM-Spektrum wählten. Das kann man nun allerdings nicht eins zu eins auf die Stadt übertragen. Bei den städtischen Wahlen 1992 konnte man zudem mit neuen Ideen eine Art Hoffnungswahl herbeireden und die Bürgerlichen ablösen. 1996 wird man Rechenschaft ablegen müssen - und die Erfolgsbilanz ist nicht umwerfend. Es wird sicher nicht einfach werden. Ich glaube zwar nicht, dass jene, die dieses Jahr beI den Nationalratswahlen eher links wählten, nächstes Jahr bürgerlich wählen werden - aber viele von ihnen werden aus Enttäuschung überhaupt nicht mehr wählen. Das ist eine Gefahr für RGM. Zusammenfassend: Das Potential für die Stadtratswahlen ist vorhanden, aber es muss mobilisiert werden. Bei den Gemeinderatswahlen sind die Chancen dann intakt, wenn es gelingt, eine breit abgestützte, attraktive Liste zu präsentieren, hinter die sich das ganze RGM-Bündnis vorbehaltlos stellen kann.
 
 
Der Gesprächspartner 
Der 41jährige Werner Seitz hat Philosophie, Staatsrecht und Geschichte studiert und arbeitete nach dem Sudienabschluss während sechs Jahren als Politologe am Forschungszentrum für schweizerische Politik der Universität Bern. Seit 1990 ist er beim Bundesamt für Statistik, wo er den Bereich Abstimmungen und Wahlen leitet und mehrere Studien zu den Nationalratswahlen 1991 und 1995 verfasst hat. 
In wenigen Wochen liefert Seitz seine berufsbegleitend erarbeitete Dissertation zum Thema «Abstimmungsverhalten und politische Kultur» ab. Seitz ist Mitglied des dreiköpfigen RGM-Beraterteams, das die Koalition kritisch begleitet. Er gehört keiner politischen Partei an.