Werner Seitz*

«Nützen die 'Frauenlisten' den Frauen? Die Wirksamkeit der nach Geschlecht getrennten Listen bei den Nationalratswahlen»,
in Rote Revue, 1993, Nr. 3, S. 20–23.


==>pdf

Auf dem Weg in den Nationalrat haben die interessierten Anwärterinnen und Anwärter eine doppelte Selektion zu bestehen: Zuerst müssen sie von den Parteien und Gruppierungen als Kandidierende ausgewählt werden, und darauf haben sie sich gegen die anderen Mitkandidierenden durchzusetzen, um als Abgeordnete in die grosse Kammer gewählt zu werden.
Bei diesem Selektionsprozess schneiden die Frauen, die in der Bevölkerung gegenwärtig mit gut 51% und unter den Wahlberechtigten mit 54% die Mehrheit ausmachen, mit steigender Stufe schlechter ab. Bei den Nationalratswahlen 1991 waren die Männer unter den Kandidierenden rund doppelt so stark vertreten wie die Frauen; bei der Wahl schnitten sie wiederum nochmals mehr als doppelt so erfolgreich ab wie die Frauen; das Verhältnis der gewählten Frauen zu den gewählten Männern kam so auf rund 1:5 zu liegen. In absoluten Zahlen: 1991 wurden 35 Frauen und 165 Männer in den 200-köpfigen Nationalrat gewählt. Die meisten Frauen (21) gehören dabei den rot-grünen Parteien an (12 SPS, 8 GPS und 1 FraP!); 31 stammen aus der deutschsprachigen Schweiz.

Die Frauenlisten bei den Nationalratswahlen
Diskussionen über Massnahmen, welche gegen diesen für die Frauen ungünstigen Selektionsprozess Gegensteuer geben, werden seit den achtziger Jahren geführt; die bekanntesten Massnahmen sind dabei die «Quoten» und die Frauenlisten. Während die Abklärungen über die «Quoten» noch im Gange sind, konnten die Frauenlisten - oder besser: die nach Geschlecht getrennten Parteilisten - relativ einfach realisiert werden.
Bei den Nationalratswahlen 1987 stellten erstmals die FDP-Solothurn und die SP-Bern solche Listen auf. Erfolgreich war nur die Frauenliste der Berner SP (2 Sitze). Bei den Nationalratswahlen 1991 wurden bereits 7 nach Geschlecht getrennten Parteilisten eingereicht. 4 stammten von der SP (in Zürich, Bern, Freiburg und Genf), 1 von den GPS-Grünen (in St. Gallen) und 1 - wie bereits 1987 - von der Solothurner FDP. Ebenfalls mit einer Männer- und einer Frauenliste trat in Basel-Landschaft die nationalistische SD an.  Erfolgreich waren die 3 SP-Listen und die GP-Liste; auf ihnen schafften 5 SP-Frauen (2 ZH, 2 BE, 1 GE) und 1 GPS-Frau (SG) den Sprung nach Bern.

Wirkungen der Frauenlisten bei den Nationalratswahlen 1991
Vergleichen wir diese 5 erfolgreichen Listen mit den entsprechenden Parteilisten bei den Nationalratswahlen 1987 - die meisten waren damals nicht nach Geschlecht getrennt -, so stellen wir fest, dass sich die Zahl der gewählten Frauen bei diesen Parteien von 4 auf 6 steigerte, während die Zahl der gewählten Männer bei 12 stagnierte. Auf diesen ersten Blick haben sich die Frauenlisten also bewährt.
Bei der SP-Genf und der GP-St. Gallen wurde neu je 1 Frau gewählt, während die Zahl der gewählten der Männer bei 2 resp. 0 stagnierte. Bei der SP-Bern wiederum konnten die Frauen ihre beiden Sitze behalten, die Männer hingegen verloren 1 Mandat. Für die Kandidatinnen dieser drei Parteien dürfte sich die nach Geschlecht getrennten Listen ausbezahlt haben. Anders bei der SP-Zürich: Die SP gewann mit ihren beiden Listen gegenüber 1987 1 zusätzliches Mandat, während die Sitzzahl der Frauen bei 2 stagnierte. Ziehen wir in Betracht, dass die SP-Vertretung von Zürich am Ende der vergangenen Legislatur aus 3 Frauen bestand, so muss gar von einem verlorenen und von einem verpassten Sitz gesprochen werden.
Diese Einschätzungen werden auch auf dem differenzierteren Niveau der Stimmenanteile der kandidierenden Frauen und Männer bestätigt: Die SP-Frauen in Genf und die GP-Frauen in St. Gallen, welche je 1 Sitz neu gewonnen haben, erreichten auch erhöhte Stimmenanteile; ebenfalls gestiegen im Vergleich zu 1987 sind die Stimmenanteile der SP-Frauen in Bern. Bei diesen drei Listen kann also auch auf diesem differenzierteren Niveau von einer positiven Wirkung der Frauenlisten gesprochen werden. Zwar kein Sitzgewinn, aber ebenfalls eine markante Steigerung des Stimmenanteils im Vergleich zu 1987 ist bei den Kandidatinnen der SP-Freiburg festzustellen. Die Stimmenanteile der Kandiatinnen und Kandidaten bestätigen auch die Einschätzung, dass die nach Geschlecht getrennten Listen den Zürcher Sozialdemokratinnen geschadet haben. Entgegen dem gesamtschweizerischen Trend und auch dem Trend in der gesamtschweizerischen SP sank der Stimmenanteil der SP-Frauen in Zürich gegenüber den Wahlen von 1987. Ebenfalls ohne positive Wirkung für die Kandidatinnen war die bereits zum zweiten Mal aufgestellte Frauenliste der FDP-Solothurn. Der Stimmenanteil der Frauen war sogar leicht kleiner als 1987.
Frauenlisten können also unterschiedliche Wirkungen haben, nützliche wie schädliche. In Genf, Bern und St. Gallen waren sie positiv; dabei waren jedoch nicht überall dieselben Gründe massgebend. In Genf richtete sich die SP-Frauenliste mit Christiane Brunner an der Spitze vor allem gegen die GP-Liste, welche von einem eher konservativen Nationalrat angeführt wurde. Diese Strategie ging voll auf: Die GP-Genf verlor massiv an Stimmen, die SP-Genf legte spektakuläre 7.8 Prozentpunkte zu. In Bern wiederum ging es eher darum, dass die Frauen versuchten, sich mit einer starken Frauenliste und einer profilierten Spitzenkandidatin (Gret Haller) von der seit 1979 anhaltenden Talfahrt der SP-Bern abzusetzen, was offensichtlich gelang: Die Liste der Männer und Gewerkschafter verlor weiter, die Frauenliste legte gegenüber 1987 sogar etwas zu. In St. Gallen schliesslich richtete sich der Entscheid der Grünen, mit nach Geschlecht getrennten Listen zu kandidieren, gegen den langjährigen Spitzenkandidaten aus den eigenen Reihen. Dieser erzielte zwar auf der Männerliste mehr Stimmen als die gewählte Frau, da die Frauenliste insgesamt aber mehr Stimmen machte, ging das Mandat der GPS an die Kandidatin.
Geschadet haben die nach Geschlecht getrennten Listen hingegen den Kandidatinnen der Zürcher SP: Die SP gewann gegenüber 1987 1 Mandat; diesen Sitzgewinn machte die Männerliste, während die Frauen auf ihren beiden Sitzen von 1987 sitzenblieben (und im Vergleich zum Sommer 1991 gar 1 Mandat einbüssten). Hier hatte das Aufstellen von nach Geschlecht getrennten Listen letztlich den Effekt, dass die Frauen nicht an den zahlreichen Stimmen, welche vor allem wegen der männlichen Spitzenkandidaten Moritz Leuenberger und Elmar Ledergerber der SP zukamen, teilhaben konnten (Leuenberger erhielt alleine soviele Stimmen wie die beiden gewählten SP-Frauen zusammen). Gegen einen Frauenliste hätte aber nicht nur die attraktive Männerliste gesprochen, es war in Zürich auch keine besondere Zielgruppe der SP-Frauenliste erkennbar: FraP! und die Grünen (GPS, alternative Liste) deckten bereits grosse Teile dieses «Segmentes» ab. Der Entscheid der SP-Zürich, mit nach Geschlecht getrennten Listen zu kandidieren, konnte so höchstens die Funktion haben, mit der Frauenliste «ein Zeichen zu setzen», zu einem hohen Preis allerdings. Einen ähnlichen Effekt des Nicht-Teilhabens der Kandidatinnen am Erfolg der Kandidaten dürfte die Frauenliste der FDP-Solothurn gehabt haben.

Sind Frauenlisten eine wirksame Förderungsmassnahme?
Wie diese Beispiele zeigen, kann die Frage nicht heissen: «Frauenlisten ja oder nein». Für bestimmte Situationen (Genf, Bern und St. Gallen) kann eine Frauenliste erfolgversprechend sein, für andere (Zürich) wiederum nicht. Es ist also nötig, vorgängig die möglichen Wirkungen eines Wahlkampfes mit nach Geschlecht getrennten Listen abzuschätzen.
Dabei könnten etwa folgende Überlegungen angestellt werden: Bei starken Männerkandidaturen ist es sinnvoll, die Kandidatinnen auf dieselbe Liste zu setzen, damit sie im Windschatten der Politstars möglichst viele Stimmen erhalten; ist die Liste wenig attraktiv oder befindet sich die Partei in einem Formtief, so ist ein Alleingang der Frauen wohl eher erfolgversprechend. Zu beachten ist auch das Segment der WählerInnen, das angesprochen werden soll: Ist es bereits stark umworben, so ist eine zusätzlich Liste nicht unbedingt angesagt. Haben diese Massnahmen den Charakter, dass sie das «Angenehme mit dem Nützlichen» verbinden können und die Frauensitze auf Kosten der gegnerischen Partei anpeilen, so kann Frauenförderung auch auf Kosten der Männer in der eigenen Partei betrieben werden. Dies haben 1991 die Grünen in Solothurn und St. Gallen praktiziert. In Solothurn verzichteten sie kurzerhand auf eine Männerkandidatur, womit der Sitz, sofern er erreicht würde, ein sicherer Frauensitz war; in St. Gallen wurde mit den nach Geschlecht getrennten Listen der langjährige Spitzenkandidat zum Stimmenlieferanten für die Frauenliste. Im Grunde ist nur jene Frauenförderungsmassnahme erfolgreich, die über ein «Männeropfer» führt, gegebenenfalls auch in der eigenen Partei.
Bei den nach Geschlecht getrennten Listen gilt es abschliessend noch auf einen ernst zu nehmenden Nachteil hinzuweisen: Sie verhindern, dass Frauen während der Legislaturperiode auf Sitze von zurücktretenden Männern nachrutschen könnnen. In der Legislaturperiode 1987/91 steigerte sich per saldo die Zahl der Frauen im Nationalrat von 29 auf 32; in der laufenden Legislatur werden allenfalls zurücktretende Kandidaten der SP-Zürich, SP-Bern, SP-Freiburg und SP-Genf) sowie der Solothurner FDP nicht durch eine Frau ersetzt werden können.
 

PS:
Sollte das im Rahmen der Teilrevision des Bundesgesetzes über die politischen Rechte vorgesehene Verbot der Unterlistenverbindungen beschlossen werden, so werden künftig die Parteien vor der Alternative stehen, entweder geschlechterspezifische - oder alters- und regionenspezifische Teillisten - aufzustellen und diese miteinander zu verbinden, oder ohne solche Teillisten mit anderen nahestehenden Parteien eine Listenverbindung einzugehen. Diese Revision dürfte die Diskussion über die nach Geschlecht getrennten Listen beenden.
 
 

 

Werner Seitz, *1954
Studium der Philosophie, Schweizergeschichte und Staatsrecht; 1984-1990: Assistent am Forschungszentrum für schweizerische Politik und am soziologischen Institut der Universität Bern. Seit 1990 am Bundesamt für Statistik, verantwortlich für den Bereich «Politik».

    •  
       
    •