Werner Seitz 

 Debatte über die SP-Thesen zur Zukunft der Linken in der Schweiz:
«Vielfalt statt sozialdemokratische Einheitspartei»,
in Berner Tagwacht, 14. Mai 1996.
 


Der Text von Peter Bodenmann und André Daguet ist ein Versuch, mit den sozialen, ökologischen und feministischen Kräften innerhalb und ausserhalb der SPS zu kommunizieren, wobei die Botschaft von Bodenmann/Daguet einfach und klar ist: Die Nationalratswahlen 1995 haben im rotgrünen Segment eine Siegerin – die SPS – und im übrigen nur Verliererinnen – namentlich die GPS – hervorgebracht. Da die SPS mittlerweile auch ökologische und feministische Postulate vertritt, sollen sich die Verliererinnen doch in den Schoss der SPS begeben. Argumentation und Tonfall von Bodenmann/Daguet sind von einer Siegermentalität geprägt.

Dem Text von Bodenmann/Daguet kann in vielen Punkten zugestimmt werden, vor allem der Lagebeurteilung der rotgrünen Kräfte in der Schweiz und dem manifestierten Willen, den linken, grünen und feministischen Postulaten wirksamer zum Durchbruch zu verhelfen. Fragwürdig sind jedoch jene Ausführungen, in denen Bodenmann/Daguet die SPS den kleinen linken, grünen und feministischen Gruppierungen nicht nur als Referenzinstanz empfehlen, sondern diesen gewissermassen ihre Existenzberechtigung absprechen, sie gleichsam zum «Abbruch der Übung» – und zum Eintritt in die SPS – auffordern.

Warum der Aufruf gerade jetzt erfolgt
Eine Erklärung liegt auf der Hand: Nach einer Reihe von Niederlagen bei den Nationalratswahlen hat die SPS 1995 erstmals wieder einen respektablen Wahlsieg errungen, und ihre langjährige Konkurrentin, die GPS, gehörte erstmals zu den Verliererinnen (und das angekündigte Projekt einer feministischen nationalen Partei hat gar Schiffbruch erlitten). Dass die Freude über einen nicht erwarteten Wahltriumph den Siegern häufig die Sicht etwas verstellt und sie zu Selbstüberschätzung verleitet, ist nichts Neues. Sie sollte aber nach einer gewissen Zeit wieder etwas abklingen.

Wahlergebnisse genau analysieren
Wenn Bodenmann/Daguet festhalten, die Linke hätte 1995 ihr bestes Wahlergebnis dieses Jahrhunderts erzielt, stimmt dies – aber nur in bezug auf die Zahl der 67 Parlamentsmandate, welche SPS, Grüne, Kommunisten und FraP zusammen eroberten. Wahlergebnisse müssen aber immer in zweifacher Hinsicht interpretiert werden: in bezug auf die Zahl der erhaltenen Sitze und in bezug auf den Anteil der WählerInnen, die eine Partei gewählt haben (Parteistärke). Zwischen diesen beiden Werten bestehen zum Teil beträchtliche Unterschiede, welche durch das sogenannte «Proporzglück» bzw. «Proporzpech» verursacht werden. So erreichte z.B. die SP Basel-Stadt bei den Nationalratswahlen 1995 einen Stimmenanteil von 35%; dieser genügte jedoch – dank Listenverbindung mit den Grünen und den kleinen Linksparteien und dank «Proporzglück»–, um 67% aller Basler Sitze zu erobern (4 von 6 Sitzen). Für die Parlamentsarbeit sind die vier SP-Sitze natürlich wichtig, die SP-Basel aber bleibt eine 35%-Partei (sie hat von den vier erhaltenen Sitzen nur 2,1 voll bezahlt; bei den nächsten Wahlen kann der vierte und eventuell auch der dritte Sitz bereits wieder wackeln).
Analysieren wir nun das von Bodenmann/Daguet zum Jahrhundertergebnis erklärte Resultat der rotgrünen Parteien in bezug auf die Parteistärke, so wird dieses Wahlergebnis von SPS, Grünen, Kommunisten und den Feministinnen nur noch zu einem «guten Ergebnis»: Diese Parteien erreichten 1995 zusammen eine Stärke von 29,5%. Das ist dasselbe Ergebnis, wie sie es schon bei den Nationalratswahlen 1979 und 1983 erzielt hatten.

Drittschlechtestes Wahlergebnis der SPS seit 1919
Mit der Erklärung, die Linken hätten 1995 ihr bestes Wahlergebnis eingefahren – mit der SPS als grosser Gewinnerin – suggerieren Bodenmann/Daguet, die SPS hätte ebenfalls ein Jahrhundertergebnis erzielt. Auch dieses ist etwas zu relativieren: «Jahrhundertmässig» ist vor allem einmal der Zuwachs von 12 (bzw. 13) Sitzen gegenüber den letzten Wahlen; bezogen auf die absolute Zahl der erhaltenen Sitze aber müssen bereits frühere Wahlen ausgeklammert werden (1943 und 1975). Nehmen wir nun noch die Parteistärke (und klammern damit den Faktor «Proporzglück» aus), so sind die rund 22% der SPS von 1995 das drittschlechteste Wahlergebnis der SPS seit 1919. Nur zweimal war sie bisher noch schlechter: bei den Nationalratswahlen 1987 und 1991.
Die SPS hat mit dem Wahlsieg von 1995 vor allem ihre massiven Verluste, welche sie seit 1975 kontinuierlich eingefahren hatte, um gute 3 Prozentpunkte nach oben korrigiert. Sie muss aber genau nochmals soviel zulegen, bis sie die Stärke von 1975 (25%) wieder erreicht – und dies war beileibe nicht das beste Wahlergebnis in der Geschichte der SPS.
SPS im Aufwind
Bei den jüngsten Nationalratswahlen ist jedoch deutlich zutage getreten, dass die SPS jenen Prozess, der Ende der siebziger Jahre begann und in den achtziger Jahren besonders stark war, wenden konnte: Von 1975 bis 1987 hatte die SPS rund einen Viertel ihrer Parteistärke (6,5 Prozentpunkte) verloren – und die Grünen gewannen in dieser Phase Stimmen in etwa derselben Grössenordnung. Mit ihren Stimmengewinnen bei den jüngsten Wahlen – und etwas geringeren Verlusten der GPS – kann sich die SPS darin bestätigt sehen, dass sie nun wieder für einen Teil der ehemaligen Wählenden der Grünen attraktiv geworden ist. Bodenmann/Daguet wollen nun offensichtlich diese Wende beschleunigen und die gegenwärtig pitoyable Situation der Grünen ausnützen. Immerhin weisen die jüngsten kantonalen und kommunalen Wahlen im Thurgau, in Luzern und in Neuenburg darauf hin, dass der Trend der Wählenden weg von den Grünen (bzw. den kleinen Linksparteien) hin zur SP nicht einhellig ist.

Folgendes kann jedoch festgehalten werden:
1. Sitzmässig hat bei den jüngsten Nationalratswahlen das rotgrüne Lager – dank Sitzgewinnen der SPS – beträchtlich zulegen können; die WählerInnenbasis der rotgrünen Parteien (die Parteistärke) bewegte sich jedoch im Rahmen der vergangenen Wahlen.
2. Innerhalb des rotgrünen Lagers hat die SPS an Sitzen massiv zulegen können, grösstenteils auf Kosten der GPS und der Mitteparteien. Bezogen auf die Parteistärke sind die SPS-Gewinne aber weniger strahlend und die GPS-Verluste weniger gravierend: Im Vergleich mit den Wahlen von 1991 hat die SPS gute drei Prozentpunkte dazugewonnen und die GPS hat einen guten Prozentpunkt verloren.

Rotgrüne Einheitspartei ist nicht erstrebenswert
Bodenmann/Daguet können den eigenständigen kleinen Parteien im rotgrünen Lager nicht allzuviel Positives abgewinnen. Claude Longchamp et al. drücken dies in ihrem Fazit zu ihrer ersten Analyse der Nationalratswahlen 1995 folgendermassen aus: «Das Schielen auf die wachsende Konkurrenz im eigenen Umfeld, die sich in den letzten 12 Jahren in Form von Kleinparteien formiert hat, die stets beweglicher, kompromissloser und damit auch wirkungsvoller agieren konnten, scheint ein Ende gefunden zu haben». Angenommen, diese Kleinparteien wären nun wirklich am Ende – was aber etwas übertrieben ist –, wäre dies für eine linke, grüne und feministische Politik, wie sie die SPS betreiben will, wirklich von Gutem? Hatten nicht gerade diese kleinen Parteien, angefangen von der POCH bis zu den Grünen und den Feministinnen, auch ihren Anteil daran, dass die SPS in den letzten Jahren ihren Transformationsprozess vorantreiben konnte? Die inhaltlichen Impulse, die von diesen kleinen Parteien kamen, können für eine linke, ökologische und feministische Politik doch nur als positiv eingeschätzt werden (auch wenn sie für die SPS gelegentlich ärgerlich sein können)! Schaden widerfährt einer rotgrünen Politik jedoch durch diese Parteien keinen, namentlich solange das Wahlsystem breiteste Allianzen zulässt (welche zudem die grösseren Parteien wie die SPS bevorzugen) und solange die inhaltlichen Unterschiede zwischen diesen Parteien in den meisten Punkten nur graduell vorhanden sind. In diesem Sinn bemerkt denn auch der neue Co-Präsident der SP der Stadt Bern, Res Zysset, zur parteipolitischen Situation in der Stadt Bern, dass er – angesichts der Tatsache, dass grosse Parteien grundsätzlich dazu neigten, eine gewisse Trägheit zu entwickeln – froh sei über die Farbtupfer, die kleinere Gruppierungen in die Politik einbrächten. Der SP schade es nicht, wenn sie sich mit Konkurrenten im linken Lager auseinandersetzen müsse: «Das zwingt uns, immer aktuell zu bleiben» (BT, 2.4.96).

Kleine Parteien sind die Hefe im Teig
Die rotgrünen Kleinparteien zeichnen sich durch eine Beweglichkeit in ihrer politischen Programmatik aus, welche eine Grosspartei wie die SPS nicht haben kann: In den siebziger und frühen achtziger Jahren fand sich ein Grossteil der 68er in der POCH, dem PSA, der RML oder regionalen kritischen Gruppen, welche einerseits in den Parlamenten politisierten, und andrerseits in den verschiedensten ausserparlamentarischen Bewegungen präsent waren (z.B. in der Anti-AKW-, Frauen- oder Friedensbewegung). In den achtziger Jahren mutierten POCH und RML (SAP) zu grünen Formationen, wobei auch personelle Veränderungen stattfanden: Es stiessen Junge dazu, und einige der VeteranInnen beendeten ihre politischen Aktivitäten, andere traten der SPS bei. Gegenwärtig sind diese kleinen Parteien etwas orientierungslos: Abgesehen von der GPS fehlt ihnen eine national handlungsfähige Vernetzung und in Sachen politischer Programmatik können sie sich nur punktuell von der SPS abgrenzen. Dies dürfte auch der Grund dafür sein, dass sie gegenwärtig eine grosse «Sinn- und Legitimationskrise» durchmachen. Spätestens dann aber, wenn die SPS wieder etwas an Schwung verloren hat, wenn sie gewisse Themen zu vernachlässigen beginnt oder wenn sie gewisse neue Themen nicht erkennt, dürfte sich diesen oder anderen neuen kleinen Parteien wieder eine Perspektive eröffnen – sie dürften erneut zum produktiven Ärgernis der SPS werden.

RGM – Ein Konzept für die Mehrheit in den Städten
Eine Strategie, welche dem Geist des Textes von Bodenmann/Daguet entspricht, hat die SP-Basel-Stadt für die kommenden Regierungsratswahlen beschlossen. Die Delegiertenversammlung erteilte dem Vorschlag für eine Mitte-Links-Liste mit zwei Vertreterinnen der SP und zwei aus dem Mitte- bzw. feministischen Lager eine Absage und versucht, die Mehrheit im Alleingang mit vier Kandidaturen zu erobern (gegenwärtig hat die SP zwei von sieben Sitzen in der Regierung inne). Dass hier eher ein «Zeichen gesetzt» als politisch strategisch überlegt und kalkuliert wurde, ist die Meinung der meisten aussenstehenden BeobachterInnen.
Städte zeichnen sich gegenüber ländlichen Gemeinden dadurch aus, dass die rotgrünen Kräfte besonders stark sind und dass die Mitteparteien (LdU/EVP) inhaltlich in vielen Fragen mit den rotgrünen Positionen übereinstimmen. Aufgrund der Parteistärke sind Allianzen zwischen den linken, grünen und Mitte-Parteien potentiell mehrheitsfähig. Diese Parteien haben jedoch unterschiedliche WählerInnenpotentiale, welche sich nicht über einen Leisten schlagen lassen. Eine politische Mehrheit kann in den Städten also nur erreicht werden, wenn sich die linken, grünen und Mitte-Parteien unter Wahrung ihrer Identität aufgrund einer programmatischen Plattform zusammenschliessen.
Eine solche Zusammenarbeit begründeten die RotGrünMitte-Parteien in der Stadt Bern in den Jahren 1991/1992 und stellen seit den Wahlen vom Dezember 1992 in Parlament und Regierung die Mehrheit. Auch wenn die Bilanz der RGM-Parteien für die erste Legislaturperiode nicht allen Hoffnungen und Erwartungen entsprach, wurde doch vor einigen Wochen die Weiterführung des RGM-Bündnisses beschlossen. Die Wahlliste für den Gemeinderat besteht aus 2 SP, 1 GB, 1 JBFL und 1 LdU.
Durch die Brille des Konzepts von Bodenmann/Daguet dürfte das Faktum, dass die SP der Stadt Bern als weitaus stärkste Partei zugunsten der kleinen Mitteparteien auf einen dritten Sitz auf der Gemeinderatsliste verzichten musste, ein Skandal sein – aber nur die Selbstbescheidung der SP ermöglicht es, die Mitte ins RGM-Bündnis einzubinden und damit die Chancen auf eine erneute RGM-Mehrheit intakt zu halten. Diese Einschätzung wurde von der Delegiertenversammlung der SP-Bern – nach einer Bedenkzeit – mit grosser Mehrheit geteilt.
Zu einem ähnlichen Schluss kamen für die kommenden Kommunalwahlen auch die linken, grünen und Mitte-Parteien in der Stadt Biel: Sie haben sich ebenfalls zu einem RGM-Bündnis zusammengeschlossen.

Nicht alle wollen sich mit Realpolitik zufrieden geben
Ob das Konzept von Bodenmann/Daguet oder jenes von RGM mehr zur Umsetzung sozialer, ökologischer und feministischer Postulate beiträgt, wird sich weisen. Die Vorstellung aber, dass die rotgrünen Ideen einmal allein von einer sozialdemokratischen Einheitspartei vertreten werden, ruft – gerade für schweizerische Verhältnisse mit den vielfältigen Möglichkeiten der direkten Demokratie – gelangweiltes Gähnen hervor. Es erscheint auch unrealistisch anzunehmen, dass all jene politisch Interessierten im rotgrünen Segment, die lieber radikale Oppositionspolitik machen oder sich auf ein einziges politisches Thema konzentrieren (z.B. GSoA), sich plötzlich in einer Partei einfinden werden, die Regierungsverantwortung trägt und sich gar oft mit Kompromissen bescheiden muss. Gerade jüngere Menschen wollen sich in der Politik nicht mit Realpolitik zufriedengeben. Dies zeigt auch ein Blick in die heutige SPS: Dort findet sich manch profilierter Kopf, der sich in seinen jungen Jahren politisch nicht in der SPS sozialisieren lassen wollte.
 
 

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