Werner Seitz*

«Von den 'roten Städten' zu den rot-grünen Hochburgen. Linke Regierungsmehrheiten in urbanen Gebieten»,
in Neue Zürcher Zeitung, 21/22. Oktober 2006.


===> pdf

Städte leben und verändern sich soziodemographisch. Das macht sich auch in der Politik bemerkbar. Die neue urbane Mittelschicht unterstützt heute mehrheitlich rot-grüne Parteien. Diese stellen rund sechzig Prozent der Regierungssitze in den acht grössten Schweizer Städten. Rot-grüne Regierungspolitik in den Städten sei sehr pragmatisch, schreibt Werner Seitz, und nicht mit rot-grüner Opposition auf Bundes- und Kantonsebene vergleichbar. 
 

Sämtliche fünf Grossstädte mit mehr als 100'000 Einwohnern – also Zürich, Genf, Basel, Bern und Lausanne – werden zurzeit von einer rot-grünen Mehrheit regiert. Von den drei mittelgrossen Städten mit mehr als 50'000 Einwohnern verfügt Rot-Grün in Winterthur über die Mehrheit der Regierungssitze und in Luzern regiert der Parteilose Urs W. Studer mit zwei Bürgerlichen und zwei Rot-Grünen. Nur gerade in St. Gallen haben die Bürgerlichen eine Regierungsmehrheit inne. Vor zwanzig Jahren zeigte sich noch ein ganz anderes Bild: Sämtliche Regierungen dieser acht Gross- und mittelgrossen Städte waren damals mehrheitlich bürgerlich besetzt. Auch wenn die Städte tendenziell Hochburgen der Linksparteien sind, werden sie nur selten mehrheitlich von Linksparteien regiert: Linksregierungen stellen, im historischen Vergleich, die Ausnahme dar.

Bis in die zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren die Städte – mit Ausnahme einiger kleiner Städte in der Romandie – fest in bürgerlicher Hand. Ende der zwanziger- und in den dreissiger Jahren, als sich im Zuge der Wirtschaftskrise die soziale Frage zuspitze, erzielte die SP in den meisten grösseren Städten Mehrheiten in den Regierungen. Sie wurde dabei von den zum Teil recht starken Kommunisten unterstützt – und gleichermassen bedrängt. Diese Städte gingen als «rotes Basel», «rotes Zürich», «rotes Lausanne» oder «rotes Biel» in die Geschichte ein.

Die roten Städte setzten ihre politischen Prioritäten bei der Linderung der Armut, der Bekämpfung der Wirtschaftskrise sowie beim Aufbau einer öffentlichen Grundversorgung. Die Politik der Verwirklichung dieser gemeindepolitischen Ziele wurde mit dem Begriff des Gemeindesozialismus bezeichnet. Hochbrisant war in den Städten der dreissiger Jahre die Armut, welche mit Sofortmassnahmen bekämpft wurde. Das «rote Lausanne» etwa richtete Küchen für Arbeitslose und Notleidende sowie Schlafsäle für Obdachlose ein und leistete Unterstützungsbeiträge für Miet- und Heizkosten. Angesichts der Wohnungsnot betrieben die roten Städte auch – mit dem «roten Wien» als Vorbild – eine aktive Boden- und Wohnbaupolitik, wobei sie den genossenschaftlichen Wohnungsbau dem kommunalen Wohnungsbau vorzogen.

Weiter verfolgten die roten Städte mit grosser Konsequenz die Kommunalisierung der «industriellen Betriebe», zu denen die Gas- Wasser- und Elektrizitätswerke, die Trams, die öffentlichen Schlachthäuser und die Volksbäder gehörten. Dabei konnte die SP an beträchtliche Vorarbeiten der bürgerlichen Parteien, namentlich der Freisinnigen, anknüpfen. In der Absicht, die städtischen Betriebe zu Musterbetrieben zu machen, sorgten die roten Städte auch für gute Arbeitsbedingungen und kürzere Arbeitszeiten beim öffentlichen Personal.

Von diesen Aktivitäten der öffentlichen Hand sollten nicht nur die breiten Bevölkerungsschichten profitieren, sie sollten auch die stockende Wirtschaft ankurbeln. Damit vermochte die SP auch bürgerliche Handwerkerkreise anzusprechen, welche von der Arbeitsbeschaffungspolitik profitierten. Im «roten Basel» etwa führte dies dazu, dass diese ihren traditionellen Antisozialismus-Reflex ablegten, was das «rote Basel» auch nach dem Verbot der Kommunistischen Partei durch den Bundesrat von 1940 überleben liess.

Soziodemografischer Wandel

Spätestens Ende der vierziger Jahre endete die Phase der roten Städte. Der Staatsstreich der Kommunisten in der Tschechoslowakei von 1948 liess die kommunistische PdA viel Goodwill einbüssen und in der Folge wurde in Zürich und Basel die PdA aus den Regierung abgewählt und im Parlament brach sie massiv ein. Dies bedeutete gleichsam das Ende der linken Regierungsmehrheiten. In der Folge wirkte die SP in den meisten Stadtregierungen als Konkordanzpartnerin mit.

Eine Änderung der politischen Mehrheitsverhältnisse in den Städten bahnte sich erst wieder in den 1980er Jahren an, als sich die Probleme in den Städten zuspitzten: Ein Hauptproblem war der Privatverkehr, der infolge der Trennung des Arbeits- und Wohnorts die Städte als Wohnort unattraktiv machte. Ein weiteres Hauptproblem war die zunehmende Konzentration von so genannt sozial Marginalisierten in den Städten, was der Wirtschaftswissenschafter René L. Frey mit dem Begriff der «A-Stadt» umschrieb. Er verstand darunter das Phänomen, dass in den Städten Alte, Arme, Alleinerziehende, Arbeitslose, Auszubildende und Ausländer überproportional vertreten waren. Aus diesen beiden Problemen resultierte in der Regel ein drittes: die Krise der städtischen Finanzen. Insofern die Städte vornehmlich mittelstarke und schwache Steuerzahler hatten, fehlten ihnen häufig die Mittel, um ihren Aufgaben nachzukommen, was letztlich zu beträchtlicher städtischer Verschuldung führte.

Offensichtlich wurde in den Städten der 1980er Jahre, ähnlich wie in den dreissiger Jahren, den rot-grünen Parteien und ihren Konzepten mehr Vertrauen entgegengebracht als jenen der Bürgerlichen. Erste Stadt mit einer Regierungsbeteiligung der Grünen und gleichzeitig auch mit einer ersten rot-grünen Regierungsmehrheit war 1989 Lausanne.

Zu Beginn der Neunzigerjahre eroberte in der Stadt Bern das Rot-grünMitte-Bündnis (RGM) die Regierungsmehrheit und in Genf übernahmen SP, Grüne zusammen mit den Kommunisten das Szepter. In Zürich und vor allem Basel dauerte es aus unterschiedlichen Gründen länger, bis die SP zusammen den Grünen die Regierungsmehrheit erhielt. In Winterthur wurde im Frühjahr 2006 eine rot-grüne Mehrheit in die Regierung gewählt.

Soziodemografische Veränderungen in den neunziger Jahren

In den neunziger Jahren  änderte sich die soziodemografische Zusammensetzung und die erwähnten Probleme der «A-Städte» verlagerten sich in die ehemaligen Arbeiterquartiere am Stadtrand oder in die dicht besiedelten Vorstädte. Eine Analyse der Volkszählungsergebnisse von 1990 und 2000 zeigt, dass in den Kernstädten der soziale Status und die Individualisierung der Lebensformen stark angestiegen waren. Dabei ist in den Kernstädten der soziale Status der Bevölkerung vor allem bezüglich der tertiären Bildungsabschlüsse hoch, während die Individualisierung der Lebensweise dazu führte, dass die sozialen Probleme kaum mehr durch familiäre Gemeinschaften aufgefangen, sondern vielmehr direkt auf staatliche Institutionen übertragen wurden.

Interessant ist namentlich die Feststellung der Analyse, dass sich diese Entwicklung nicht gleichermassen in den einzelnen Städten vollzogen habe, sondern dass die Grossstädte sozial polarisiert seien, wobei die beiden Lager nur durch eine relativ schmale Mittelschicht verbunden seien. In den Kernstädten seien so reiche und arme Schichten unter einem Dach vereint.

Veränderung der Parteienlandschaft

Bereits in den 1980er Jahren  hatten sich die Grünen als eigene politische Kraft formiert und die SP orientierte sich stärker nach links und öffnete sich mit ökologischen und feministischen Themen gegenüber den neuen Mittelschichten. In den neunziger Jahren  fand insofern ein weitere Transformation im Parteiensystem statt, als das bürgerliche Lager von der SVP nach rechts umgepflügt wurde. Diese Veränderungen zeigen sich deutlich im Stimmverhalten der Städte bei den Nationalratswahlen. Im Vergleich zu den Nationalratswahlen 1991 steigerten sich bis 2003 die rot-grünen Parteien in den fünf Grossstädten um fast zehn Prozentpunkte, in den mittelgrossen Städten um sechs. Sie vermochten damit per saldo die einstige politische Mitte zu beerben, die in der Deutschschweiz vor allem der Landesring der Unabhängigen innehatte. Dagegen brachen die einst dominanten FDP und Liberalen genauso wie ihr städtischer Juniorpartner – die CVP – ein. In den Gross- und mittelgrossen Städten büssten sie zusammen fast acht Punkte ein. Stark verbessert hat dagegen die SVP, welche in diesen Städten bislang nur marginal vertreten gewesen war und mit ihren dezidierten Oppositionskurs massiv zulegte – auf Kosten der kleinen Rechtsparteien wie der bürgerlichen Parteien. Sie steigerte sich in den Grossstädten um vierzehn Prozentpunkte, in den mittelgrossen Städten um zwölf.

In dieser parteipolitischen Polarisierung manifestiert sich auch die erwähnte soziale Polarisierung der Städte, wobei die neue urbane Mittelschicht mehrheitlich die rot-grünen Parteien unterstützt, während die sogenannten Modernisierungsverlierer in der SVP ihre Referenzinstanz gefunden haben.

Im Spiegel der jüngsten Nationalratswahlen 2003 verfügen die rot-grünen Parteien in den fünf Grossstädten insgesamt über eine Parteienstärke von mehr als 50 Prozent; in Winterthur und Luzern erreichten sie über 40 Prozent. FDP, Liberale und CVP schaffen es dagegen zusammen nur gerade noch auf rund 25 Prozent, während sich die SVP auf gut 19 Prozent steigerte. Diese Stimmenanteile entsprechen weitgehend den Parteistärken, welche bei den Wahlen in die Parlamente der acht Städte mit mehr als 50 000 Einwohnern erzielt wurden.

Vormarsch in die Exekutiven

Verfügten die rot-grünen Parteien in den frühen 1980er Jahren  noch über ein knappes Drittel aller Exekutivmandate, so besetzen sie zurzeit 60 Prozent der Regierungssitze der acht grössten Schweizer Städte. Gegenüber den 1980er Jahren ist dies eine Steigerung bei den Grünen um sechzehn Prozentpunkte, bei der SP um sieben und bei den kleinen Linksparteien um vier Punkte. FDP, Liberale und CVP brachen dagegen von 52 auf 36 Prozent ein, während die SVP gar – anders als bei den Parlamentswahlen – ihre einzigen Mandate in Bern und Winterthur verlor und nun in keiner Regierung einer Gross- und mittelgrossen Stadt mehr vertreten ist.

Der Hauptgrund für diesen massiven Anstieg von Rot-Grün in den Regierungen liegt sicher in der Veränderung der politischen Präferenzen der Gross- und mittleren Städte in den vergangenen zwanzig Jahren. Dies zeigt sich auch bei den Volksabstimmungen über Vorlagen, die nach den Konfliktachsen links-rechts oder modern-konservativ polarisieren. Bei diesen stimmen die Gross- und mittleren Städte jeweils überdurchschnittlich stark für linke und, vor allem, moderne Vorschläge.

Das Faktum aber, dass die rot-grünen Parteien in den Exekutiven deutlich stärker vertreten sind als in den Parlamenten, ist vor allem auch das Ergebnis des häufigen oppositionellen Alleingangs der SVP, welche den Bürgerblock gegenüber dem meist geschlossen auftretenden rot-grünen Bündnis schwächte. Zudem schaffte es die SVP mit ihrer aggressiven Rechtspolitik häufig, die FDP inhaltlich unter Druck zu setzen, so dass sich die FDP vielfach nicht getraute, eine urbane Mittepolitik zu machen. Damit wuchs natürlich für Rot-Grün ein komfortables Polster heran, da sich das liberale, urbane Publikum mangels Alternativen zunehmend auf Rot-Grün orientierte.

Schliesslich ist noch darauf hinzuweisen, dass sich die rot-grüne Mehrheits-Regierungspolitik in den Städten deutlich von der doch tendenziell oppositionellen rot-grünen Politik auf Kantons- und Bundesebene unterscheidet. Rot-grüne Mehrheitspolitik in den Städten ist weitgehend eine pragmatische Politik, bei der nur in wenigen Bereichen die Schwerpunkte anders gelegt werden als dies eine urbane FDP machen würde. Davon betroffen sind namentlich die Themen Privatverkehr und Familie (Kinderkrippen, Tagesschulen, Mittagstische). In vielen andern Bereichen betreiben die rot-grünen Parteien eine Politik, die nicht unbedingt ihre Urheberschaft verrät. So werden auch in diesen Städten Stellen abgebaut und es finden Sparrunden statt, wenn auch moderater; dafür stossen linke Sparrunden auf grössere Akzeptanz. Schliesslich wurde in den letzten Jahren auch das alte Vorurteil, die rot-grünen Parteien würden jedes Bauvorhaben blockieren, von den rot-grünen Stadtregierungen widerlegt. Fast jede dieser Städte brüstet sich mittlerweile mit grösseren Bauprojekten, wobei ihnen sichtlich auch architektonische Qualität am Herzen liegt.

Das Faktum aber, dass die rot-grünen Parteien in sechs der acht grössten Schweizer Städten mehrheitlich regieren, heisst nicht, dass sie alle eine Politik nach demselben Muster verfolgen. Gerade in Zürich ist die Kooperation der SP mit der FDP relativ ausgeprägt, ein Muster, das schon zu Zeiten des «roten Zürichs» festgestellt werden konnte.

 

 

Grafik:
Städte mit mehr als 50'000 Einwohnern:
Parteipolitische Zusammensetzung der Exekutiven (1983/86 – 2003/
2006)

 
 

Quelle: BFS

 

 

 

* Werner Seitz ist Leiter der Sektion Politik, Kultur, Medien im Bundesamt für Statistik (BFS).


Literaturhinweise:
BFS (2006): Die Exekutiven und Legislativen der Schweizer Städte. Parteien- und geschlechtsspezifische Analyse (1983–2005);
M. Hermann et al. (2005): Soziokulturelle Unterschiede in der Schweiz. Vier Indices zu räumlichen Disparitäten 1990–2000, (hrsg. vom BFS).