Werner Seitz*

«Von Proporzglück und Proporzpech: Voll und Restmandate, Effekte von Listenverbindungen und Wahlkreisgrösse», 
in 
Neue Zürich Zeitung, Wahlen 2007, Sonderbeilage, 17. September 2007


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 Mit dem Proporzverfahren wird angestrebt, dass sich die Sitzanteile im Parlament und die Stimmenanteile der Parteien möglichst entsprechen. Insofern die Bundesverfassung aber festlegt, dass die Kantone die Wahlkreise für die Nationalratswahlen sind, wird dieses Anliegen des Proporzes etwas geritzt. So finden in jenen sechs Kantonen, denen aufgrund ihrer Bevölkerungsgrösse nur ein Sitz in der grossen Kammer zusteht, die Wahlen nach dem Majorzsystem statt. In dreizehn weiteren Kantonen, in denen zwei bis acht Sitze zu vergeben sind, müssen die Parteien theoretisch einen Stimmenanteil von 11 bis 33 Prozent ausweisen, um ein Vollmandat zu erhalten. In diesen insgesamt neunzehn Kantonen holten bei den letzten Nationalratswahlen die Nicht-Bundesratsparteien nur 5 Mandate, während 69 Mandate an die Bundesratsparteien gingen. Kleine Parteien haben vor allem in grossen Kantonen Chancen auf ein Nationalratsmandat, so etwa in Zürich, Bern oder in der Waadt, wo die «Schwellenwerte» für ein Vollmandat zwischen 2,9 und 5,3 Prozent liegen.

Voll- und Restmandate

Von den eher kleinen Wahlkreisen profitieren somit tendenziell die grossen Parteien. Und in manchen kleinen Kantonen treten deshalb wählerschwache, kleine Parteien gar nicht erst an. Und kandidieren sie trotzdem, kann es sein, dass sich einige ihrer potenziellen Wählenden «strategisch» verhalten und – weil sie wollen, dass ihre Stimme etwas bewirkt – für eine grösseren Partei mit mehr Wahlchancen votieren. Ein Mandatsgewinn ist jedoch auch für kleinere Parteien in mittelgrossen Wahlkreisen möglich, sei es über ein Restmandat, sei es über Listenverbindungen mit anderen Parteien. Da die Wahllisten faktisch nie jene Stimmenzahlen erreichen, die Anspruch auf genau eines bzw. mehrere volle Mandate vermitteln, werden bei den Nationalratswahlen die Sitze anhand eines Divisors verteilt, dessen Wert die  Zahl der zu verteilenden Mandate um 1 übersteigt. Mandate, die den Wahllisten im ersten Verteilungsschritt zugeteilt werden, werden «Vollmandate» genannt, jene Mandate, die erst in einer der nachfolgenden Verteilungsrunden zugeordnet werden, «Restmandate». Bei den Nationalratswahlen 2003 gab es 148 Voll- und 46 Restmandate; also knapp jedes vierte Mandat war ein Restmandat. Von diesen entfielen 34 auf die Bundesratsparteien, wobei FDP und SP mit je 11 die meisten einheimsten. Bei der FDP beträgt der Anteil der Restmandate am Total der Mandate somit 33 Prozent, bei der SP und der CVP 22 bzw. 19 Prozent. Bei der SVP machen die Restmandate nur gerade 13 Prozent aus. Von den Nicht-Bundesratsparteien holte die GPS 4 Restmandate und je 1 eines ging an die EVP, die PDA, die EDU, die CSP, die welsche Solidarité, die FGA, die SD und die Lega. Bei letzteren fünf Parteien waren es die einzigen erhaltenen Mandate.

Listenverbindungen

Mit Listenverbindungen können einerseits grosse Parteien verschiedene Gruppen von Wählerinnen und Wählern gezielt ansprechen, andererseits können sich kleine Parteien und Gruppierungen, welche selbst kein Mandat gewinnen können, mit eigenen Listen an den Wahlen beteiligen, ohne dabei das ideologische Lager, dem sie sich verbunden fühlen, zu schwächen. Es können zwischen- und innerparteiliche Verbindungen unterschieden werden: Zwischenparteiliche («echte») Listenverbindungen drücken ideologische Gemeinsamkeiten aus, wogegen innerparteiliche Listenverbindungen innerparteiliche Differenzierungen ausdrücken oder aber strategisch eingesetzt werden, um über alters-, geschlechts- und regionenspezifische Teilliste das Wählersegment optimal auszuschöpfen – der Aspekt der innerparteilichen Differenzierung zeigt sich namentlich bei den Unterlistenverbindungen. Für die Nationalratswahlen 2003 wurden in sämtlichen Proporzkantonen Listenverbindungen abgeschlossen. Gegenüber 1971 hat sich die Zahl der Listenverbindungen mehr als verdoppelt (von 30 auf 67), worin sich auch die Zahl der gestiegenen Wahllisten spiegelt. Bei den abgeschlossenen zwischenparteilichen Listenverbindungen können zwei Hauptblöcke unterschieden werden: zum einen der linksgrüne Block (SP, GPS sowie FGA, PdA und Solidarité) und zum anderen der bürgerliche Block (FDP, CVP, SVP und LPS). Wie schon bei früheren Wahlen trat der links-grüne Block 2003 geschlossener auf als der bürgerliche: In 14 von 15 Kantonen, in denen sowohl die SP wie auch die GPS kandidierten, gingen die beiden Parteien eine Listenverbindung ein. Die einzige Ausnahme bildete der Kanton Zürich, wo sich die GPS mit der EVP und CVP zusammenschloss, während sich die SP mit den linksalternativen Listen (FGA) verband. Die klassische bürgerliche Listenverbindung FDP/CVP/SVP kam noch in drei Kantonen zustande (Basel-Land, Schaffhausen, Waadt), in weiteren drei Kantonen (Freiburg, Basel-Stadt, Genf) gab es eine Allianz zwischen FDP und CVP ohne die SVP. Die häufigsten Verbindungen im bürgerlichen Lager bestanden 2003 zwischen FDP und SVP, unter Abseitsstehen der CVP (Zürich, Bern, Aargau, Thurgau).Am zahlreichsten waren die Fälle, in denen die drei bürgerlichen Bundesratsparteien getrennt antraten (Luzern, Schwyz, Zug, Solothurn, St. Gallen, Graubünden, Tessin, Wallis, Jura). – Aufgrund der Möglichkeit von Listenverbindungen sind bei den Nationalratswahlen 2003 insgesamt 28 Mandate anders verteilt worden, und 18 Mandate wären per Saldo an eine andere Partei gegangen. Profitiert haben mit je 1 Mandat die CSP, die PDA, die Solidarité, die FGA, die SD, die EDU und die Lega sowie, mit 2 zusätzlichen Mandaten, die GPS. Diese Gewinne aufgrund von Listenverbindungen gingen zu Lasten der grossen Parteien: SP (3), FDP und SVP (je 2) sowie CVP und LPS (je 1). Bei den Wahlen 2003 gingen so dank den Listenverbindungen 8 Mandate an kleinere Parteien. In diesem Sinn lässt sich der Schluss ziehen, dass die Listenverbindungen zum   geltenden föderalistischen Wahlsystem wie auch zum Mandatsverteilungsverfahren – welche beide die kleineren Parteien tendenziell benachteiligen –  gewissermassen ein Korrektiv darstellen.

 

* Der Autor leitet die Sektion Politik, Kultur und Medien im Bundesamt für Statistik (BfS).