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Werner Seitz

Frauenstreiktag: Die Gleichstellung der Frauen in der Schweizer Politik. Analyse
«Ein frauenpolitisch unrühmlicher Normalfall», in Tages-Anzeiger, 14. Juni 2004.


 



Die Jahreszahlen 1983, 1993, 2003 haben für die Gleichstellung der Frauen in der Schweizer Politik symbolische Bedeutung: 1983 wurde Lilian Uchtenhagen nicht in den Bundesrat gewählt, 1993 widerfuhr Christiane Brunner dasselbe Schicksal, und 2003 wurde die wieder kandidierende CVP-Bundesrätin Ruth Metzler abgewählt. Schlagartig wurde jeweils die Untervertretung der Frauen in der Politik in Erinnerung gerufen, und die Medien gaben diesem Thema eine breite Plattform. Zumindest für einige Wochen.

Als 1983 an Stelle der offiziellen SP-Kandidatin Lilian Uchtenhagen Otto Stich in den Bundesrat gewählt wurde, sah es mit der Frauenvertretung in den politischen Institutionen durchwegs schlecht aus: keine Frau im Bundesrat, eine einzige in sämtlichen kantonalen Regierungen und nur je rund 11 Prozent Frauen im Nationalrat und in den kantonalen Parlamenten. Dabei stand die SP mit 20 Prozent Frauen auch nicht besonders gut da, aber deutlich besser als die CVP, die FDP und vor allem die SVP.

Der Versuch, die erste Frau in die Landesregierung zu bringen, machte die SP für viele politisch interessierte Frauen zur Referenzinstanz. Dies wiederum erhöhte den Druck auf die SP, sich von einer traditionellen patriarchalischen Arbeiterpartei zu einer modernen Partei der Mittelschichten zu wandeln, in der auch Frauen ihren Platz haben, wie dies die neu gegründeten Grünen bereits erfolgreich vormachten. Und es kam Bewegung in die SP. Zu Beginn der Neunzigerjahre machten die Frauen unter den Abgeordneten der SP im Nationalrat und in den kantonalen Parlamenten schon knapp 30 Prozent aus. Die Frauen von FDP, CVP und SVP dagegen verbesserten ihre Vertretung in den Achtzigerjahren kaum.

Es verwunderte nicht, dass die SP 1993 für die Nachfolge von SP-Bundesrat René Felber wieder eine Frau portierte: Christiane Brunner. Diese war bekanntlich der Parlamentsmehrheit nicht genehm. Anders als 1983 aber akzeptierte die SP die Wahl eines SP-Mannes nicht mehr; der gewählte Francis Matthey schlug die Wahl aus und machte Ruth Dreifuss Platz.

Die Neunzigerjahre waren für die Gleichstellung der Frauen in der schweizerischen Politik das fruchtbarste Jahrzehnt. Die Frauenvertretung stieg in sämtlichen politischen Institutionen beträchtlich an. Gegenwärtig bewegt sich der Frauenanteil im Nationalrat, im Ständerat und in den kantonalen Parlamenten und Regierungen zwischen 22 und 26 Prozent.

Die gewählten Frauen gehören jedoch nicht allen Parteien gleichermassen an. Seit den Achtzigerjahren hat vielmehr eine parteipolitische Polarisierung der Frauenrepräsentation stattgefunden: Die rot-grünen Parteien delegieren relativ viele Frauen in die Parlamente, die Frauenanteile sinken dagegen, je weiter rechts sich eine Partei positioniert. Gegenwärtig haben die rot-grünen Parteien fast gleich viele Frauen wie Männer in den Parlamenten, die SVP bringt es dagegen im Nationalrat gerade noch auf 5,5 Prozent Frauen. Ein ähnliches parteipolitisches Verteilungsmuster zeigen auch die kantonalen Parlamente. Im Ständerat und in den Kantonsregierungen ist es dagegen anders: Hier stellen SP und FDP klar die meisten Frauen.

Für den Vormarsch der Frauen in den Neunzigerjahren gibt es zwei Erklärungen: Die eine besagt, dass die beachtlichen Wahlerfolge der SP-Frauen sowie die Medienberichterstattung darüber FDP und CVP unter Druck setzten. Und diese beiden Parteien zogen nach und verbesserten ihre Frauenvertretung: die FDP besonders im Ständerat und in den Kantonsregierungen, die CVP bei den jüngsten Nationalratswahlen. Die SVP dagegen entzog sich dem öffentlichen Druck und machte sich daran, den rechten Rand zu besetzen.

Als zweite Erklärung für den Vormarsch in den Neunzigerjahren kann auf die verpönten Geschlechterquoten verwiesen werden, deren Einführung mit einem guten Dutzend Volksinitiativen und parlamentarischen Vorstössen gefordert wurde. Sämtliche Vorlagen scheiterten, und zwar durchwegs mit schlechten bis sehr schlechten Ergebnissen. Trotzdem trugen sie wesentlich dazu bei, dass die Untervertretung der Frauen breit thematisiert wurde, was die Parteien zu Rechenschaft beziehungsweise zum Handeln zwang.

Der geschilderte Effort brachte den Frauen in der schweizerischen Politik den Anschluss an Europa. Eine Zusammenstellung der Interparlamentarischen Union zeigt die Schweiz mit ihrem Frauenanteil von 26 Prozent im Nationalrat im vorderen Drittel der europäischen Staaten. Die Schweiz ist somit in Sachen politischer Frauenpartizipation kein europäischer Sonderfall mehr, sondern ein gleichstellungspolitischer Normalfall.

Ein «Normalfall» zu sein ist eine schlechte Voraussetzung für weitere Verbesserungen - aber solche sind nötig, denn die Frauen sind in der Politik noch lange nicht gleich gut vertreten wie die Männer.

Der Ball liegt nun vor allem bei den Frauen der CVP und der FDP, in ihren Parteien eigene Strategien zu entwickeln und um Positionen und Einfluss zu kämpfen. Schaffen sie es, ihren Anteil in den politischen Institutionen auf 40 Prozent zu steigern, wird die Gleichstellung parteipolitisch breiter abgestützt sein. Ohne einen Effort dieser beiden Parteien aber und ohne eine erneute Thematisierung der Untervertretung der Frauen durch die Medien dürfte sich die Präsenz der Frauen in der Politik kaum noch wesentlich verbessern.

 

* Werner Seitz  ist Politologe und leitet im Bundesamt für Statistik die Sektion «Politik, Kultur, Medien»