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Rezension in Basler Zeitung (Heinz Däpp) 

Rezension
Basler Zeitung, 28. November 1997
Heinz Däpp 


Die politische Kultur ist nicht mehr, was sie war

Was bewegt einen Politiker, eine Politikerin dazu, etwas zu tun oder zu lassen? Argumente, die ihn oder sie überzeugen, persönliche oder gemeinschaftliche Interessen, vielleicht auch Emotionen? Damit ist politisches Denken und Handeln allerdings noch nicht ausreichend erklärt. Denn da muss eine Prämisse sein, auf die politische Überlegungen abgestützt sind. In der politologischen Wissenschaft gibt es den Begriff der «politischen Kultur», der seit bald 20 Jahren in Abhandlungen immer neu definiert und interpretiert wird.

Der Berner Politologe Werner Seitz hat in seiner Dissertation die Geschichte dieses Begriffs sorgfältig aufgearbeitet und dann die Frage gestellt, inwiefern die politische Kultur das Abstimmungsverhalten in der Schweiz prägt und wie sich solche Prägungen nachweisen lassen. Die überarbeitete Fassung dieser Doktorarbeit richtet sich nicht nur an politologische und politische Profis. Sie kann auch direktdemokratische Milizen interessieren, wenn sie bereit sind, sich in die luftigen Höhen der Politikwissenschaft aufzuschwingen und den politischen Alltag für einmal aus der Vogelperspektive zu betrachten.

Kein moralischer Begriff

Politische Kultur ist kein moralischer Begriff, wie Biertischpolitiker und Journalisten oft fälschlicherweise glauben machen. Politische Kultur, resümiert Seitz die umfangreiche wissenschaftliche Literatur zum Thema, ist kein individuelles Merkmal, also nicht etwas, was die eine Politikerin hat und der andere Politiker nicht. Politische Kultur ist, ähnlich wie die Sprache, untrennbar mit einem Kollektiv verbunden. Sie wird durch die allgemeine und die politische Sozialisation vermittelt. Politische Kultur, definiert Seitz, besteht aus den grundlegenden Vorstellungen darüber, was Politik ist, und sie legt die Möglichkeiten eines Kollektivs fest, die politische Welt wahrzunehmen, zu bewerten und in ihr zu handeln. Sie bestimmt also den Rahmen, in dem politisches Denken und Handeln stattfindet. Und sie stellt einem Kollektiv ein System von Werten und Symbolen, von Wahrnehmungs-, Interpretations-, Handlungs- und Problemlösungsmustern zur Verfügung. In all dem spiegeln sich kollektiv verarbeitete Erfahrungen früherer Generationen.

Gesellschaftliche Tatsache

Politische Kultur, vernehmen wir weiter aus der Dissertation von Werner Seitz, ist eine gesellschaftliche Tatsache. Sie wird nicht als solche bewusst erlebt, sondern als selbstverständlich, als natürlich empfunden. Allerdings: Mit der fortschreitenden Modernisierung und Verstädterung der Gesellschaft wie auch mit dem wachsenden Einfluss der Massenmedien werden politische Kulturen aufgeweicht. Die alten konfessionellen und klassenmässigen Gegensätze etwa, welche die politische Kultur in der Schweiz bis zum Zweiten Weltkrieg vorwiegend bestimmten, haben ihre prägende Kraft verloren. Neue Kulturen entstehen, die neue Zugehörigkeiten zu einem sozialen Bezugsfeld herstellen, oder alte, zum Beispiel regionale Bezüge reaktivieren.

Ist aus den mehr als 400 eidgenössischen Abstimmungen seit 1874, als das fakultative Referendum eingeführt wurde, die politische Kultur in ihrem Wandel abzulesen? Gelingt es der Abstimmungsforschung, diesen Wandel auch sichtbar zu machen? Seitz meldet Zweifel an, besonders für die jüngere Zeit. Die Bindungen der Individuen an ihre sozialen Gruppen, schreibt er, sind lockerer geworden. Abstimmungskämpfe werden immer mehr mit Parolen geführt und immer weniger mit Appellen an die soziale Zugehörigkeit.

Für Urnengänge neueren Datums ist das politische Verhalten weniger ein sozialer Akt als vielmehr eine individuelle Handlung, und diese lässt sich leichter beeinflussen als jener. Seitz ist der Auffassung, dass damit auch die Bedingungen für die Beurteilung von Abstimmungsvorlagen schlechter geworden sind. Weil die traditionellen Wertesysteme an Orientierungskraft verloren haben, stützen sich die Bürgerinnen und Bürger vermehrt auf irrationale Elemente wie Vertrauen in bestimmte Personen.