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Rezension in Neue Zürcher Zeitung (Silvano Möckli ) 

Rezension
Neue Zürcher Zeitung, 28. Mai 1998
Silvano Möckli 


Politische Kultur und Volksabstimmungen. Erfassung einer Variablen

«Politische Kultur» gehört zu jenen Begriffen, die oft gebraucht, aber kaum je hinsichtlich ihrer Bedeutung geklärt werden. Der Begriff ist beliebt, wenn zur Erklärung eines politischen Phänomens keine andere unabhängige Variable zur Hand ist. So wird etwa behauptet, die Stabilität eines politischen Systems hänge mit der politischen Kultur zusammen oder die unterschiedlichen Abstimmungsergebnisse in den Kantonen widerspiegelten unterschiedliche politische Kulturen. So breit wie der Begriff ist auch die Arbeit von Werner Seitz angelegt. In seiner klar aufgebauten und flüssig formulierten Dissertation analysiert er sowohl die Theoriegeschichte wie auch den Zusammenhang von politischer Kultur und Abstimmungen auf eidgenössischer Ebene.

Politische Kultur ist ein «latente Variable», also nicht direkt empirisch erfassbar. Kein Wunder also, dass die Autoren, die sich mit dem Gegenstand beschäftigt haben, die politische Kultur stets auch mit eigenen und zuweilen eigenwilligen Indikatoren eingefangen haben. Seitz rollt die Theoriegeschichte des Begriffs im 20.Jahrhundert auf. Vom systemtheoretischen über den marxistischen Kulturbegriff, über die grundlegenden Arbeiten von Talcott Parsons und Gabriel A. Almond gelangt er zum Kern des «Political culture»-Konzepts, das Gabriel A. Almond und Sidney Verba in «The Civic Culture» entworfen haben. Als moderne Variante des Konzepts schildert er detailliert die Theorie des Wertewandels von Ronald Inglehart. Die amerikanischen Konzepte haben in den sechziger und siebziger Jahren eine ausführliche Diskussion in Deutschland ausgelöst, die Seitz detailgetreu nachzeichnet. In einem Exkurs geht er schliesslich auf das Konzept des kulturellen Gedächtnisses der Zürcher Soziologen Hans-Peter Meier und Moritz Rosenmund ein.

Im zweiten Teil widmet sich der Autor der Analyse eidgenössischer Volksabstimmungen. Bei der Erläuterung der zwei grundlegenden Methoden der Wahlforschung, der Aggregat- und der Individualdatenanalyse, kommen Seitz seine praktischen Kenntnisse als Mitarbeiter des Bundesamts für Statistik zustatten. Ausführlich geht er auf die These von Gruner und Hertig ein, wonach Volksabstimmungen im Prinzip käuflich seien. Er kommt zum Schluss, dass die These in dieser Form nicht haltbar ist. – Die Vorzüge der Arbeit von Werner Seitz liegen in der breiten und klaren Darstellung unterschiedlicher Konzepte der politischen Kultur und in seiner Einführung in die Analyse des Wahl- und Abstimmungsverhaltens. Der gewählte breite Ansatz hat freilich auch seinen Preis: es ist dabei nicht möglich, eine forschungsleitende Frage durch die ganze Arbeit durchzuziehen, und die eigenen Einwürfe des Autors kommen zu kurz. Auch ist es nicht gelungen, im Teil II die dargelegten Konzepte des ersten Teils wieder aufzunehmen und fruchtbar zu machen.