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Städte leben und verändern sich soziodemographisch. Das macht sich auch in der Politik bemerkbar. Die neue urbane Mittelschicht unterstützt heute mehrheitlich rot-grüne Parteien. Diese stellen rund sechzig Prozent der Regierungssitze in den acht grössten Schweizer Städten. Rotgrüne Regierungspolitik in den Städten sei pragmatisch, schreibt Werner Seitz, und nicht mit rot-grüner Opposition auf Bundes- und Kantonsebene vergleichbar. Sämtliche fünf Grossstädte mit mehr als
100 000 Einwohnern - also Zürich, Genf, Basel, Bern und Lausanne -
werden zurzeit von einer rot-grünen Mehrheit regiert. Von den drei
mittelgrossen Städten mit mehr als 50 000 Einwohnern verfügt Rot-Grün
in Winterthur über die Mehrheit der Regierungssitze, und in Luzern regiert
der Parteilose Urs W. Studer mit zwei Bürgerlichen und zwei
Rot-Grünen. Nur gerade in St. Gallen haben die Bürgerlichen eine
Regierungsmehrheit inne. Vor zwanzig Jahren zeigte sich noch ein ganz
anderes Bild: Sämtliche Regierungen dieser acht Gross- und mittelgrossen
Städte waren damals mehrheitlich bürgerlich besetzt. Auch wenn die Städte
tendenziell Hochburgen der Linksparteien sind, werden sie nur selten
mehrheitlich von Linksparteien regiert: Linksregierungen stellen, im
historischen Vergleich, die Ausnahme dar.
Bis in die zwanziger Jahre des
vergangenen Jahrhunderts waren die Städte - mit Ausnahme einiger kleiner
Städte in der Romandie - fest in bürgerlicher Hand. Ende der zwanziger und
in den dreissiger Jahren, als sich im Zuge der Wirtschaftskrise die
soziale Frage zuspitzte, erzielte die SP in den meisten grösseren Städten
Mehrheiten in den Regierungen. Sie wurde dabei von den zum Teil recht
starken Kommunisten unterstützt - und gleichermassen bedrängt. Diese
Städte gingen als «rotes Basel», «rotes Zürich», «rotes Lausanne» oder
«rotes Biel» in die Geschichte ein. Die roten Städte setzten ihre
politischen Prioritäten bei der Linderung der Armut, der Bekämpfung der
Wirtschaftskrise sowie beim Aufbau einer öffentlichen Grundversorgung. Die
Politik der Verwirklichung dieser gemeindepolitischen Ziele wurde mit dem
Begriff des «Gemeindesozialismus» bezeichnet. Hochbrisant war in den
Städten der dreissiger Jahre die Armut, welche mit Sofortmassnahmen
bekämpft wurde. Das «rote Lausanne» etwa richtete Küchen für Arbeitslose
und Notleidende sowie Schlafsäle für Obdachlose ein und leistete
Unterstützungsbeiträge für Miet- und Heizkosten. Angesichts der
Wohnungsnot betrieben die roten Städte auch - mit dem «roten Wien» als
Vorbild - eine aktive Boden- und Wohnbaupolitik, wobei sie den
genossenschaftlichen Wohnungsbau dem kommunalen Wohnungsbau vorzogen.
Weiter verfolgten die roten Städte mit
grosser Konsequenz die Kommunalisierung der «industriellen Betriebe», zu
denen die Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerke, die Trams, die
öffentlichen Schlachthäuser und die Volksbäder gehörten. Dabei konnte die
SP an beträchtliche Vorarbeiten der bürgerlichen Parteien, namentlich der
Freisinnigen, anknüpfen. In der Absicht, die städtischen Betriebe zu
Musterbetrieben zu machen, sorgten die roten Städte auch für gute
Arbeitsbedingungen und kürzere Arbeitszeiten beim öffentlichen Personal.
Von diesen Aktivitäten der öffentlichen
Hand sollten nicht nur die breiten Bevölkerungsschichten profitieren, sie
sollten auch die stockende Wirtschaft ankurbeln. Damit vermochte die SP
auch bürgerliche Handwerkerkreise anzusprechen, welche von der
Arbeitsbeschaffungspolitik profitierten. Im «roten Basel» etwa führte dies
dazu, dass diese ihren traditionellen Anti-Sozialismus-Reflex ablegten,
was das «rote Basel» auch nach dem Verbot der Kommunistischen Partei durch
den Bundesrat von 1940 überleben liess.
Spätestens Ende der vierziger Jahre
endete die Phase der roten Städte. Der Staatsstreich der Kommunisten in
der Tschechoslowakei von 1948 liess die kommunistische PdA viel Goodwill
einbüssen, und in der Folge wurde in Zürich und Basel die PdA aus der
Regierung abgewählt, und im Parlament brach sie massiv ein. Dies bedeutete
gleichsam das Ende der linken Regierungsmehrheiten. In der Folge wirkte
die SP in den meisten Stadtregierungen als Konkordanzpartnerin mit.
Eine Änderung der politischen
Mehrheitsverhältnisse in den Städten bahnte sich erst wieder in den 1980er
Jahren an, als sich die Probleme in den Städten zuspitzten: Ein
Hauptproblem war der Privatverkehr, der infolge der Trennung des Arbeits-
und Wohnorts die Städte als Wohnort unattraktiv machte. Ein weiteres
Hauptproblem war die zunehmende Konzentration von sogenannt sozial
Marginalisierten in den Städten, was der Wirtschaftswissenschafter René
L. Frey mit dem Begriff der «A-Stadt» umschrieb. Er verstand darunter
das Phänomen, dass in den Städten Alte, Arme, Alleinerziehende,
Arbeitslose, Auszubildende und Ausländer überproportional vertreten waren.
Aus diesen beiden Problemen resultierte in der Regel ein drittes: die
Krise der städtischen Finanzen. Insofern die Städte vornehmlich
mittelstarke und schwache Steuerzahler hatten, fehlten ihnen häufig die
Mittel, um ihren Aufgaben nachzukommen, was letztlich zu beträchtlicher
städtischer Verschuldung führte. Offensichtlich wurde in den Städten der
achtziger Jahre, ähnlich wie in den dreissiger Jahren, den rot-grünen
Parteien und ihren Konzepten mehr Vertrauen entgegengebracht als jenen der
Bürgerlichen. Erste Stadt mit einer Regierungsbeteiligung der Grünen und
gleichzeitig auch mit einer ersten rot-grünen Regierungsmehrheit war 1989
Lausanne. Zu Beginn der 1990er Jahre eroberte in
der Stadt Bern das Rot-Grün-Mitte-Bündnis (RGM) die Regierungsmehrheit,
und in Genf übernahmen SP, Grüne zusammen mit den Kommunisten das Zepter.
In Zürich und vor allem Basel dauerte es aus unterschiedlichen Gründen
länger, bis die SP zusammen mit den Grünen die Regierungsmehrheit erhielt.
In Winterthur wurde im Frühjahr 2006 eine rot-grüne Mehrheit in die
Regierung gewählt. In den neunziger Jahren änderte sich
die soziodemographische Zusammensetzung, und die erwähnten Probleme der
«A-Städte» verlagerten sich in die ehemaligen Arbeiterquartiere am
Stadtrand oder in die dichtbesiedelten Vorstädte. Eine Analyse der
Volkszählungsergebnisse von 1990 und 2000 zeigt, dass in den Kernstädten
der soziale Status und die Individualisierung der Lebensformen stark
angestiegen waren. Dabei ist in den Kernstädten der soziale Status der
Bevölkerung vor allem bezüglich der tertiären Bildungsabschlüsse hoch,
während die Individualisierung der Lebensweise dazu führte, dass die
sozialen Probleme kaum mehr durch familiäre Gemeinschaften aufgefangen,
sondern vielmehr direkt auf staatliche Institutionen übertragen wurden.
Interessant ist namentlich die
Feststellung der Analyse, dass sich diese Entwicklung nicht gleichermassen
in den einzelnen Städten vollzogen habe, sondern dass die Grossstädte
sozial polarisiert seien, wobei die beiden Lager nur durch eine relativ
schmale Mittelschicht verbunden seien. In den Kernstädten seien so reiche
und arme Schichten unter einem Dach vereint.
Bereits in den 1980er Jahren hatten
sich die Grünen als eigene politische Kraft formiert. Die SP orientierte
sich stärker nach links und öffnete sich mit ökologischen und
feministischen Themen gegenüber den neuen Mittelschichten. In den
neunziger Jahren fand eine weitere Transformation im Parteiensystem statt,
indem das bürgerliche Lager von der SVP nach rechts umgepflügt wurde.
Diese Veränderungen zeigen sich deutlich im Stimmverhalten der Städte bei
den Nationalratswahlen. Im Vergleich zu den Nationalratswahlen 1991
steigerten sich bis 2003 die rot-grünen Parteien in den fünf Grossstädten
um fast zehn Prozentpunkte, in den mittelgrossen Städten um sechs. Sie
vermochten damit per saldo die einstige politische Mitte zu beerben, die
in der Deutschschweiz vor allem der Landesring der Unabhängigen innehatte.
Dagegen brachen die einst dominante FDP
und die Liberalen genauso wie ihr städtischer Juniorpartner - die CVP -
ein. In den Gross- und mittelgrossen Städten büssten sie zusammen fast
acht Punkte ein. Stark verbessert hat sich dagegen die SVP, welche in
diesen Städten bis dahin nur marginal vertreten war und mit ihrem
dezidierten Oppositionskurs massiv zulegte - auf Kosten der kleinen
Rechtsparteien wie der bürgerlichen Parteien. Sie steigerte sich in den
Grossstädten um vierzehn Prozentpunkte, in den mittelgrossen Städten um
zwölf. In dieser parteipolitischen Polarisierung manifestiert sich auch
die erwähnte soziale Polarisierung der Städte, wobei die neue urbane
Mittelschicht mehrheitlich die rot-grünen Parteien unterstützt, während
die sogenannten Modernisierungsverlierer in der SVP ihre Referenzinstanz
gefunden haben. Im Spiegel der jüngsten
Nationalratswahlen 2003 verfügen die rot-grünen Parteien in den fünf
Grossstädten insgesamt über eine Parteienstärke von mehr als 50 Prozent;
in Winterthur und Luzern erreichten sie über 40 Prozent. FDP, Liberale und
CVP schaffen es dagegen zusammen nur gerade noch auf rund 25 Prozent,
während sich die SVP auf gut 19 Prozent steigerte. Diese Stimmenanteile
entsprechen weitgehend den Parteistärken, welche bei den Wahlen in die
Parlamente der acht Städte mit mehr als 50 000 Einwohnern erzielt
wurden.
Verfügten die rot-grünen Parteien in
den frühen achtziger Jahren noch über ein knappes Drittel aller
Exekutivmandate, so besetzen sie zurzeit 60 Prozent der Regierungssitze
der acht grössten Schweizer Städte. Gegenüber den achtziger Jahren ist
dies eine Steigerung bei den Grünen um sechzehn Prozentpunkte, bei der SP
um sieben und bei den kleinen Linksparteien um vier Punkte. FDP, Liberale
und CVP brachen dagegen von 52 auf 36 Prozent ein, während die SVP gar -
anders als bei den Parlamentswahlen - ihre einzigen Mandate in Bern und
Winterthur verlor und nun in keiner Regierung einer Gross- und
mittelgrossen Stadt mehr vertreten ist. Der Hauptgrund für diesen massiven
Anstieg von Rot-Grün in den Regierungen liegt sicher in der Veränderung
der politischen Präferenzen der Gross- und mittleren Städte in den
vergangenen zwanzig Jahren. Dies zeigt sich auch bei den Volksabstimmungen
über Vorlagen, die nach den Konfliktachsen links-rechts oder
modern-konservativ polarisieren. Bei diesen stimmen die Gross- und
mittleren Städte jeweils überdurchschnittlich stark für linke und - vor
allem - moderne Vorschläge. Das Faktum aber, dass die rot-grünen
Parteien in den Exekutiven deutlich stärker vertreten sind als in den
Parlamenten, ist vor allem auch das Ergebnis des häufigen oppositionellen
Alleingangs der SVP, welche den Bürgerblock gegenüber dem meist
geschlossen auftretenden rot-grünen Bündnis schwächte. Zudem schaffte es
die SVP mit ihrer aggressiven Rechtspolitik häufig, die FDP inhaltlich
unter Druck zu setzen, so dass sich die FDP vielfach nicht traute, eine
urbane Mittepolitik zu machen. Damit wuchs für Rot-Grün ein komfortables
Polster heran, da sich das liberale, urbane Publikum mangels Alternativen
zunehmend an Rot-Grün orientierte. Schliesslich ist noch darauf
hinzuweisen, dass sich die rot-grüne Mehrheits-Regierungspolitik in den
Städten deutlich von der doch tendenziell oppositionellen rot-grünen
Politik auf Kantons- und Bundesebene unterscheidet. Rot-grüne
Mehrheitspolitik in den Städten ist weitgehend eine pragmatische Politik,
bei der nur in wenigen Bereichen die Schwerpunkte anders gelegt werden,
als dies eine urbane FDP machen würde. Davon betroffen sind namentlich die
Themen Privatverkehr und Familie (Kinderkrippen, Tagesschulen,
Mittagstische). In vielen andern Bereichen betreiben die rot-grünen
Parteien eine Politik, die nicht unbedingt ihre Urheberschaft verrät. So
werden auch in diesen Städten Stellen abgebaut, und es finden Sparrunden
statt, wenn auch moderater; dafür stossen linke Sparrunden auf grössere
Akzeptanz. Schliesslich wurde in den letzten Jahren auch das alte
Vorurteil, die rot-grünen Parteien würden jedes Bauvorhaben blockieren,
von den rot-grünen Stadtregierungen widerlegt. Fast jede dieser Städte
brüstet sich mittlerweile mit grösseren Bauprojekten, wobei ihnen
sichtlich auch architektonische Qualität am Herzen liegt. Das Faktum aber, dass die rot-grünen
Parteien in sechs der acht grössten Schweizer Städte mehrheitlich
regieren, heisst nicht, dass sie alle eine Politik nach demselben Muster
verfolgen. Gerade in Zürich ist die Kooperation der SP mit der FDP relativ
ausgeprägt, ein Muster, das schon zu Zeiten des «roten Zürich»
festgestellt werden konnte. * Werner Seitz ist
Leiter der Sektion Politik, Kultur und Medien im Bundesamt für Statistik
(BfS). Literaturhinweise: BfS (2006): Die Exekutiven und Legislativen der
Schweizer Städte. Parteien- und geschlechtsspezifische Analyse
(1983-2005); M. Hermann et al. (2005): Soziokulturelle Unterschiede
in der Schweiz. Vier Indizes zu räumlichen Disparitäten 1990-2000 (hrsg.
vom BfS). | ||
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