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Rezension in Schweizerische Zeitschrift für Geschichte (Regula Stämpfli)
   

Rezension
Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, 49/1999, Nr. 1
Regula Stämpfli, Brüssel


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Begriffsklärungen sind in der Historiographie ein beliebtes Mittel, um Kapitel einzuleiten oder zusammenzufassen, gelegentlich werden sie gar zum eigentlichen Gegenstand der Untersuchung. Nicht von ungefähr erfreuen sich die «Geschichtlichen Grundbegriffe» einer grossen Beliebtheit und sind bei weitem nicht nur Lexikon, sondern gleichzeitig Instanz und Agenda historischer Begriffsforschung. Der Politologe und wissenschaftliche Adjunkt beim Bundesamt für Statistik, Werner Seitz, legt mit der leicht überarbeiteten Publikation seiner Dissertation eine Begriffsgeschichte der besonderen Art vor, die nicht nur die oft konkurrierenden Wissenschaften Politologie und Geschichte, sondern auch eine breitere Öffentlichkeit interessieren sollte.

Mit dem Konzept der «political culture» durchkreuzt die Politikwissenschaft die historische Forschung an mehreren Schnittstellen: Einerseits mit der Gründungsväter-Frage nach der Stabilisierung liberaldemokratischer Systeme und damit gleichzeitig auch die Frage nach den Entstehungsbedingungen deren Zerfalls in totalitären Diktaturen, andererseits mit der Darstellung der Summe der subjektiven Einstellungen gegenüber dem politischen System als einem der Konzepte der politischen Kultur, die bestens mit den historischen Diskursanalysen zusammenfallen. Sowohl die Politikwissenschaft als auch die Wirtschafts- und Sozialgeschichte fragen in der Darstellung gewisser sozialwissenschaftlicher Phänomene nach deren Beeinflussbarkeit und deren systemerhaltenden Faktoren.

Die Grenzen zwischen Historie und Politologie sind dann erreicht, wenn es um die praktische Umsetzung der theoretischen Vorarbeit geht. Während sich die Historikerinnen und Historiker meistens auf die vornehme Position des deskripitiven oder analytischen Beobachtens und Erzählens zurückziehen, gehen die von der amerikanischen Politikwissenschaft geprägten Praktikerinnen und Praktiker der Politologie daran, die Erkenntnisse möglichst rasch und publikumswirksam in die Gegenwart überzuführen. Darin lag und liegt auch eine der Schwierigkeiten, das Konzept der politischen Kultur als Analyseinstrument zu gebrauchen.

Politische Kultur als unpräziser Dehnbegriff für alle subjektiven Einstellungen der Bevölkerung gegenüber dem politischen System, mit gleichzeitiger Verwischung von Legitimität mit Effizienz und Rationalität erwies sich mehr und mehr als Wabbelkloss sozialwissenschaftlicher Beliebigkeit. Die von Werner Seitz präsentierte Dissertation wagt es nun, diesen Pudding an die Wand zu nageln (Kaase) und tut dies gut lesbar und wissenschaftlich anregend in zwei Teilen: mit einer Übersicht zum «Konzept der politischen Kultur» und der «Analyse des Abstimmungsverhaltens». Dabei unternimmt Werner Seitz genau das von ihm mitunter auch kritisch reflektierte übliche Zusammenspiel in der Politikwissenschaft von eigentlicher Wissenschaft und Praxis und scheitert bis zu einem gewissen Grade auch daran.

Die Arbeit von Werner Seitz ist im ersten Teil hervorragend, nicht nur weil der Begriff «Politische Kultur» – dessen Hochkonjunktur im politischen Jargon der Gegenwart weiter anhält – anhand repräsentativer Autorinnen und Autoren und deren Werke dargestellt und diskutiert wird, sondern weil dies auf äusserst anregende, lesbare und wissenschaftlich saubere Art und Weise geschieht. Die Konzepte der politischen Kultur werden ausführlich dargestellt und in einer präzisen Übersicht präsentiert. Als Fazit unterscheidet Werner Seitz zwei Konzepte idealtypisch für die politische Kultur, damit bietet er gleichzeitig eine neue brauchbare Orientierung. Einerseits verortet er die instrumentell-funktionalistische, anderseits die allgemein/erklärende Variante politischer Kultur. Während die instrumentell/funktionalistischen Konzepte politischer Kultur sich in den ausgehenden 80er Jahren auf einen Minimalkonsens in der «subjektiven Dimension von Politik», die sich gewissermassen in Meinungsumfragen messen liess, einigten, gingen die allgemein/erklärenden Konzepte darüber hinaus und bescherten einen weite aktiveren Mitentscheidungsprozess der dem Herrschaftsprojekt unterworfenen Bürgerinnen und Bürger in der «politischen Kultur». «Political cultures are learned» meinten die Gründungsväter Pye und Verba und gaben somit den Startschuss für die Forschung des Sozialisationsprozesses für politische Kultur. Damit entzog sich jedoch die politische Kultur auch weitgehend einem in der Politikwissenschaft so beliebten Messprozess und wandelte sich um in ein «Produkt aus geopolitischen Festlegungen, ökonomischen Gegebenheiten, kollektiven Schlüsselerlebnissen und obrigkeitlich-staatlichen Einwirkungen – wobei es davon abhängt, wie diese einzelnen Faktoren von den betroffenen Menschen perzipiert und verarbeitet worden sind» (Historiker und Regionenforscher Hans-Georg Wehling in Seitz S. 266). Werner Seitz liefert denn auch in seinen Aspekten der politischen Kultur die Varianten sozialwissenschaftlicher Forschung und bringt diese auf den Nenner: «Politische Kultur ist kein moralischer Begriff» (Seitz S. 269). Er hätte genauso gut schreiben können: «Politische Kultur darf nicht moralischer Begriff sein», weil sie sich ansonsten ihrer Komplexität und politisch wie auch wissenschaftlich interessanten Fragestellungen beraubt. Daraus ergibt sich der Schlusssatz von Werner Seitz, der durchaus als Forschungsauftrag gerade auch in der politikwissenschaftlich unterdotierten schweizerischen Forschungslandschaft verstanden werden könnte: «Die politische Kultur manifestiert sich in verschiedenen Varianten und Kombinationen und wird gelegentlich von anderen Einflüssen überdeckt. Dies macht unabdingbar, die als ‹Wegweiser› zur politischen Kultur vermuteten politischen Verhaltensweisen und Einstellungen kritisch auf ihren Erklärungswert zu prüfen. Da es keinen ‹Königsweg› zur politischen Kultur gibt, sind sodann für eine ‹erklärende› wissenschaftliche Annäherung alle sich anbietenden Wege zu benützen (…). Erst durch ein solches interdisziplinäres Akkumulieren und Vernetzen von Erkenntnissen aus den verschiedensten Forschungsdisziplinen, welche mit unterschiedlichen Methoden gewonnen werden, dürften allmählich ‹erklärende› Konturen der untersuchten politischen Kultur sichtbar werden» (Seitz S. 274).

Werner Seitz hat mit seinem ersten Teil einen Forschungsüberblick mit kritischer Diskussion geliefert, wie sie nur selten in politikwissenschaftlichen und auch historischen Dissertationen anzutreffen ist, insofern hätte es vollends gereicht, ihm den wertvollen und durchaus verdienten Doktorhut allein für diese über 250 Seiten zuzusprechen. Die im Titel angesprochene «Beziehung zum Abstimmungsverhalten» fiel jedoch im zweiten Teil der Analyse der eidgenössischen Volksabstimmungen aus dem Konzept der Arbeit und ist zumindest auf den ersten Blick nicht erkennbar. Der Zusammenhang zwischen erstem und zweitem Teil ist zu lose, um tatsächlich den Titel «Die politische Kultur und ihre Beziehung zum Abstimmungsverhalten» zu tragen. Besser wäre es gewesen, beide Teile unabhängig, aber mit knappem Bezug aufeinander getrennt zu publizieren. Dann wäre eine wissenschaftlich und politische Diskussion, die im zweiten Teil zu Wort kommt, wohl auch besser in Gang gekommen: Die Frage nämlich, ob und wie Abstimmungen in der Schweiz käuflich seien. Werner Seitz zeigt in seinem zweiten Abschnitt klar, dass diese These von Gruner und Hertig in solch grobschlächtiger Form nicht zu halten ist. Trotz diesem einzigen Mangel an diesem wichtigen Beitrag zur politikwissenschaftlichen und nicht zuletzt auch historischen Forschung ist Seitz' Buch ein Muss für die politisch und zeitgeschichtlich aufgeweckten Zeitgenossinnen und Zeitgenossen.