Bei den Stadtberner Gemeindewahlen 1996 soll – als gesamtschweizerisches Novum – erstmals die Quotenregelung für Männer und Frauen angewendet werden – sofern das Volk am 10. September 1995 dieser Vorlage zustimmt. Wird die Quote abgelehnt, sieht der Politologe Werner Seitz für Quotenvorlagen in anderen Städten schwarz.

Der Berner Politologe Werner Seitz* über die Notwendigkeit einer Quote für den Berner Stadtrat und über die heftige Kritik der Bürgerlichen: «Quoten setzen bürgerliche Parteien unter Druck»
in Berner Tagwacht, 14. August 1995 (Interview: Brigitte Zingg, Bild: BT-Archiv).


Berner Tagwacht: Seit der Einführung des Frauenstimmrechts ist ein Vierteljahrhundert vergangen, und seit 13 Jahren ist die Gleichstellung von Mann und Frau in der Bundesverfassung  verankert. Warum polarisiert die Quotenregelung für den Berner Stadtrat noch immer so massiv?
Werner Seitz: Ich glaube, es gibt zwei Typen von Opposition: Die einen sind für Frauenförderungsmassnahmen und haben offenbar das Gefühl, eine Quote sei die falsche Massnahme. Oder sie sind – und das ist mehr eine partielle Kritik – überzeugt, dass es andere, bessere Quotenmodelle gibt als das vorliegende.
Die andern sind grundsätzlich gegen Frauenförderungsmassnahmen, weil sie auch in der Politik den freien Markt spielen lassen wollen. Sie nehmen als gegeben, dass die Männer noch vorn, die Frauen eher im hinteren Teil dabei sind und glauben, dass sich dies mit der Zeit einpendeln wird. Eine Sichtweise, die vor allem von Bürgerlichen vertreten wird.

BT: Deren Kritik geht aber noch weiter: Bei der Beratung der Quotenregelung im Stadtrat sprachen sie von «staatlicher Zwangsmassnahme», «antidemokratischen Wahltricks» und «militantem Feministinnengeschwätz». Zeugt dies von Frauenverachtung dieser Politiker oder ist es schlicht Ausdruck von mangelndem politischem Verständnis?
Seitz: Ich glaube nicht, dass dies bewusst frauenverachtend ist. Aber diese Politiker lassen jegliches Gefühl dafür vermissen, was Politik überhaupt ist; nämlich die Regelung von gesellschaftlichen Problemen, wobei die Gesellschaft die Regeln aufstellt. Das kann man sehr gut am Vorwurf aufzeigen, die Quote sei antidemokratisch. Zum einen ist die Gleichberechtigung in der Bundesverfassung verankert, und es ist ausdrücklich festgehalten, dass alle Bestrebungen unternommen werden müssen, um die Gleichberechtigung umzusetzen. Auf kantonaler Ebene heisst es im Kommentar zur Verfassung sogar, dass Quoten eine mögliche Massnahme sind. Ich frage mich, was an der Quotenregelung antidemokratisch sein soll.

BT: Die Kritik bezieht sich zum Teil auch auf das Wahlrecht.
Seitz: Bei den Proporzwahlen werden Quoten bestimmt nicht das Wahl- und Stimmrecht verletzen, weil Proporzwahlen keine Persönlichkeitswahlen, sondern Parteienwahlen sind. Das führte beispielsweise bei den Berner Gemeindewahlen 1992 dazu, dass Annette Theiler von der Jungen Alternative den Sprung in den Stadtrat mit 1900 Stimmen schaffte, während ein SP-Kandidat mit 21'000 Stimmen nicht gewählt wurde und bloss auf dem 17. Ersatzplatz landete. Aber da beklagt sich zu Recht niemand, das sei antidemokratisch und ungerecht.
Im übrigen trifft man Quoten auch sonst immer wieder in der Politik an. Das beginnt beim Jurasitz, der in der Berner Kantonsregierung gewährleistet ist und hört auf bei Nationalratswahlen, wo die Regelung gilt, dass jeder Kanton entsprechend der Grösse seiner Wohnbevölkerung eine bestimmte Sitzzahl in der 200köpfigen Kammer erhält. Pro Sitz ist also ein Zweihundertstel der Wohnbevölkerung in der Schweiz nötig (rund 34'000 Einwohner). Obwalden, Nidwalden oder Appenzell-Innerrhoden haben jedoch weniger als 34'000 Einwohner. Mit dem Argument, dass der Nationalrat eine Volkskammer ist, könnte man diese aus dem Parlament kippen. Für die Kantonsrepräsentation gibt es ja den Ständerat. Aber mit der Quotierung der Sitze haben auch sie das Recht auf eine Vertretung im Nationalrat. Diese Quotierung finden selbstverständlich auch alle in Ordnung.

BT: Kritik an einer Quotenregelung kommt auch von linker Seite. Der westfälische SPD-Fraktionsvorsitzende Friedhelm Farthmann sprach gar von «Tittensozialismus». Und auch in der Schweiz beklagen linke Männer, sie würden Opfer von Frauenförderungsmassnahmen. Müssen Berns linke Männer um ihre Sitze zittern, wenn die Quotenregelung für den Stadtrat angenommen wird?
Seitz: Ich habe mal fiktiv durchgespielt, wie die Verteilung gewesen wäre, wenn die Quotenregelung bereits bei den Wahlen 1992 gespielt hätte. Geändert hätte sich grundsätzlich nichts, weil die Quote bei den Frauen ja ohnehin erreicht worden wäre. Wenn aber die Quote nicht erreicht worden wäre und man schaut, welche Partei dann einen Mann zugunsten einer Frau hätte opfern müssen, dann wären dies die FP und die EDU gewesen. Das Grüne Bündnis und JBFL hingegen hätten als letzte einen Mann «opfern» müssen. Allgemein gesagt: Diejenigen Parteien, welche die Frauen bereits jetzt sinnvoll auf der Liste fördern, die bringen auch relativ viele Frauen ins Parlament. Das ist bei den RGM-Parteien weitgehend der Fall. Wechsel gibt es so vermutlich bei denjenigen bürgerlichen und rechtsaussen Parteien, die ihre Frauen als Wasserträgerinnen auf die Liste setzen und die Männer dann von den Stimmen, welche die Frauen auf der Liste der Partei bringen, profitieren lassen.
Aber manchmal frage ich mich, was das für ein politisches Engagement von linken Männern ist, wenn sie in eine Partei eintreten, die Gesellschaft verändern wollen, aber ihr Engagement darauf beschränken, den Sprung in ein Parlament zu schaffen. Es gab bisher viele Frauen, die Partei- und Politarbeit im Hintergrund geleistet haben. Warum sollen nicht auch die Männer im Hintergrund statt im Rampenlicht Politik machen?

BT: Statt einer Quote, die nur zum Tragen kommt, wenn ein Geschlecht nicht die 40-Prozent-Quote erreicht, fordern einige RGM-Politikerinnen eine weitergehende: Jede einzelne Partei soll zur Quotierung gezwungen werden. Wäre dies nicht ein effizienterer Schritt für die Gleichstellung von Mann und Frau gewesen?
Seitz: Effizienter schon, aber es ist klar, dass ein solches Modell vor dem Volk absolut keine Chance gehabt hätte, weil es noch viel mehr Angriffsflächen schafft als das vorliegende Quotenmodell. Es würde im Abstimmungskampf eine Grundsatzdiskussion über das Wahlrecht und über den Eingriff in die Parteienautonomie geführt. Dabei würde die Diskussion über das Wesentliche, dass nämlich mehr Frauen ins Parlament gewählt werden sollen, völlig an den Rand gedrängt.
Die vorliegende Quotengelung für den Berner Stadtrat ist relativ einfach in der Anwendung, weil sie grundsätzlich am Wahlsystem nichts ändert und nur dann korrigierend eingreift, wenn ein Geschlecht die 40 Prozent-Quote nicht erreicht. Und sie setzt auch die bürgerlichen Parteien leicht unter Druck, dass sie ihre Frauen fördern sollen.

BT: Die Erfahrung in andern Bereichen zeigt aber, dass Druck allein gar nichts nützt.
Seitz: Dass die bürgerlichen Parteien in Zugzwang gebracht werden können, zeigen die Regierungsratswahlen in den letzten zehn Jahren: In den achtziger Jahren war die erste Regierungsrätin die Sozialdemokratin Hedi Lang, vier Jahre später wurde Leni Robert (Freie Liste) als zweite Regierungsrätin gewählt. Heute sind 19 Frauen in den Kantonsregierungen und davon sind 70 Prozent aus bürgerlichen Parteien. Die gute Vorarbeit der rotgrünen Frauen ist also hier unbestritten. Und wenn man weiterhin als politisches Ziel vor Augen hat, dass die Frauen zu mindestens 40 Prozent im Parlament vertreten sein werden, muss man sich nicht in eine akademische Quotendiskussion verstricken. Deshalb ist es jetzt, da der Abstimmungskampf lanciert ist, müssig, die Grundsatz-Diskussion über verschiedene Quotenmodelle zu führen. Das hätte vor drei Jahren passieren sollen, als die Stadtkanzlei die Vorlage ausarbeitete und sich die Expertinnen noch hätten einmischen können. Das ist leider nicht passiert.

BT: Was wird sich konkret im Berner Stadtparlament ändern, wenn die Frauenquote angewendet würde? Wird anders politisiert?
Seitz: Im Berner Stadtrat ist die Quote ja nahezu erreicht. Ich finde zudem, dass man die Frauen nicht immer überstrapazieren soll und meinen muss, dass sie jetzt für ein wunderbares Klima im Rat sorgen und die weiblichen Aspekte in die Gremien bringen werden.

BT: Im Faltprospekt wird aber darauf hingewiesen, dass Frauen eine andere Sichtweise haben.
Seitz: Ich kann mir durchaus vorstellen, dass Frauen eine andere Sichtweise einbringen, wenn sie mitpolitisieren, weil sie anders sozialisiert wurden. Aber das kann auch zum Klischee werden.
Hauptsächlich geht es bei den Quoten darum, dass die Frauen einen wesentlichen Teil der Bevölkerung repräsentieren. Damit hat es sich eigentlich.

BT: Gerade bürgerliche Frauen haben sich bis jetzt im Parlament gegen Frauenanliegen ausgesprochen, so gegen städtische Krippen, Tagesschulen und die Gleichstellungsstelle. Also garantiert die Quote zwar Quantität, aber lange noch nicht Qualität.
Seitz: Grundsätzlich ist Demokratie eine Staatsform, bei der die Quantität und nicht die Qualität den Ausschlag gibt. Bei einer Volksabstimmung werden die Stimmen von einer Person, die ein grösseres Wissen hat als andere, auch nicht doppelt oder dreifach gezählt. Heute hat jede Stimme von jeder Person gleich viel Wert, egal wie kompetent sie ist.
Und würde man beim Berner Stadtrat und auch bei andern Parlamenten den Massstab der Qualität ansetzen, müsste man den Stadtrat massiv reduzieren.

BT: Falls die Quote keine Mehrheit beim Volk machen wird, wäre damit die Frauen- beziehungsweise Männerquote für die nächsten paar Jahre endgültig vom Tisch?
Seitz: In Bern wäre sie damit für die nächsten Jahre kein Thema mehr. Ein Volksnein würde der Quotenfrage aber auch auf nationaler Ebene schaden, zumal schon die Abstimmung über die Quotenregelung in Luzern anfangs Jahr schlecht abgeschnitten hat. Wenn die Stadt aber die Quotenregelung annehmen würde, hätte dies eine nicht zu unterschätzende Signalwirkung.

BT: Hätte man nun deshalb nicht besser – aus taktischen Gründen – eine radikalere Quotenregelung gefordert, damit man in einem zweiten Anlauf wenigstens das mildere, jetzt vorliegende Quotenmodell durchgebracht hätte?
Seitz: Für taktische Spiele solcherart haben wir schlicht und einfach die Zeit nicht mehr. Immerhin sind bis zur kommenden Abstimmung vier Jahre vergangen, seit Barbara Geiser die Motion eingereicht hat. Ich glaube aber auch nicht, dass diese Taktik funktionieren würde. Wer erinnert sich denn vier bis fünf Jahre später noch daran, dass die erste Quotenregelung eine sehr radikale und schlimme war, die jetzige aber mild und darum durchführbar.

BT: Sogar Linke und Grüne sehen für die Quotenvorlage wenig Chancen. Und Sie?
Seitz: Ich möchte hier keine Prognose stellen. Aber ich beurteile die Vorlage als eine, die durchaus mehrheitsfähig ist. Und zwar weil sie nicht unbedingt parteipolitisch zugeordnet werden kann, sondern eine Mehrheit der Bevölkerung betrifft. Darauf sollte man den Abstimmungskampf aufbauen, und nicht auf der Überzeugung, dass die Vorlage bloss 30 Prozent Ja-Stimmen machen wird.
Ich befürchte lediglich, dass die Bürgerlichen aus der Quotenvorlage eine RotGrünMitte-Vorlage machen, damit den Anti-RGM-Abstimmungskampf einläuten und so die Forderung nach einer Frauenquote bodigen werden. Immerhin gibt es auch bürgerliche Frauen und Männer im Komitee «Ja zu Quoten». Demokratisch bedenklich finde ich dabei, dass gerade sie nicht als ExponentInnen auftreten, weil sie sich von ihren Parteien offenbar unter Druck gesetzt fühlen. Anders kann ich mir das nicht erklären.
Das RGM-Bündnis muss im Abstimmungskampf geschlossen für die Vorlage eintreten, auch wenn die Quotenregelung nicht ihre exklusive Forderung ist. Das war ein Wahlversprechen, das RGM jetzt auch realisieren helfen muss.

BT: Mit einem Volksnein zur Geschlechterquote für den Stadtrat würde die Liste der Niederlagen von wichtigen RotGrünMitte-Anliegen (Budget, Stromrappen) erweitert. Wie würde sich dies auf auf die Gemeindewahlen 1996 auswirken?
Seitz: Es wäre einmal mehr die Bestätigung, dass man bei Wahlen eine Mehrheit für RotGrünMitte findet, bei Sachfragen aber weniger. Aber ich glaube nicht, dass RotGrünMitte deswegen in Frage gestellt würde. Innerhalb des RotGrünMitte-Bündnisses müsste man sich allerdings die Frage stellen, wie man mit solchen Abstimmungsvorlagen wie dem Stromsparrappen, bei welchen der Abstimmungskampf verschlafen wurde, oder mit Budgetvorlagen, hinter die man sich zu wenig dezidiert gestellt hat, umgehen soll.
 
 

BERNER QUOTE
Mit Quotenregelung wird der Berner Stadtrat wie bisher nach dem Proporzverfahren gewählt. Wird nach Auszählen der Stimmen klar, dass ein Geschlecht die notwendige Quote von 40 Prozent nicht erreicht hat, wird umverteilt, und zwar nach folgendem Prinzip: In derjenigen Partei, in der Frauen viele Stimmen, aber relativ wenige Sitze erreicht haben, muss der am schlechtesten gewählte Mann seinen Sitz zugunsten der bestplazierten Frau räumen. Falls durch einen Rücktritt die 40 Prozentquote unterschritten wird, kann eine Frau nur durch eine Frau ersetzt werden. 

 

 
*ZUR PERSON
Der Berner Politologe Werner Seitz gehört zur BeraterInnengruppe des RotGrünMitte-Bündnisses und verfasste verschiedene Studien zum Thema «Frauen bei den Wahlen». Als Politologe ist er Mitglied des überparteilichen Komitees «Ja zu Quoten im Berner Stadtrat».