«Trendprognose statt Inhalte»
Werner Seitz über den zweifelhaften Nutzen von Meinungsumfragen, in Klartext. Das Schweizer Medien-Magazin, 1995, Nr. 3


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Beeinflussen Meinungsumfragen, die im Vorfeld von Abstimmungen und Wahlen veröffentlicht werden, das Stimm- und Wahlverhalten? Davon überzeugt war offensichtlich der Solothurner Ständerat Büttiker (fdp), als er im Anschluss an die EWR-Volksabstimmung im Dezember 1992 den Bundesrat fragte, wie dieser den Einfluss von veröffentlichten Meinungsumfragen auf die Stimmbeteiligung und das Abstimmungsresultat beurteile, ob nicht –  im Interesse der direkten Demokratie – vor dem Urnengang während einer gewissen «Schonzeit» auf die Veröffentlichung  von Meinungsumfragen verzichtet werden solle und ob der Bundesrat eine Möglichkeit sehe, den Einfluss der Meinungsforschung auf das Abstimmungs- und Wahlverhalten möglichst gering zu halten.

Der  Bundesrat begnügte sich in seiner Antwort mit dem Hinweis auf eine Studienkommission, welche 1988 zum Schluss gekommen war, der diesbezügliche Problemdruck sei gering und die Kenntnisse über etwaige Zusammenhänge zwischen Umfrageergebnissen und Abstimmungs- und Wahlverhalten seien zuwenig gesichert. Weiter unterstrich der Bundesrat seine Überzeugung, dass der Gesetzgeber nur das Nötigste zu regeln habe, und appellierte an das Verantwortungsbewusstsein und die kritische Einstellung der Medien.

So unbefriedigend und vage die Antwort des Bundesrates erscheint – ein Blick in die Fachliteratur wie auch Gespräche mit Leuten, die es wissen müssten, fördern keine fundierteren Erkenntnisse zutage. Es bleibt also dabei:  Ein direkter Einfluss der veröffentlichten Meinung auf die Meinungsbildung kann nicht nachgewiesen werden. Wer behauptet, Meinungsumfragen, welche einer Partei Stimmengewinne prophezeiten, würden einen «Siegereffekt» bewirken, der anziehend wirke, dem kann mit  guten Gründen entgegengehalten werden, dass vorausgesagte Stimmenverluste einen «Mitleideffekt» mit der betroffenen Partei bewirkten, der gleichermassen anziehend wirke. Beweisbar ist weder das eine noch das andere, plausibel kann beides sein.

Meinungsumfragen können die Erwartungshaltung der Bevölkerung, wer die Wahlen gewinnen wird, beeinflussen. Daraus ist aber nicht abzuleiten, dass das konkrete Wahlverhalten an die Erwartungshaltung angepasst würde: Eine Grüne wird grün wählen, auch wenn sie Verluste für ihre Partei erwartet. Meinungsumfragen – sofern sie seriös erstellt sind – reflektieren, was die Menschen denken. Von dieser öffentlich gemachten Spiegelung der politischen Stimmungslage auf eine Beeinflussung der Meinung bei den Gespiegelten zu schliessen, zeugt von einer (Selbst-)Überschätzung der Meinungsumfrage. Eine politische Einstellung ist nicht vom «Sieger-» bzw. «Mitleideffekt» abhängig!

Als weiterer möglicher Effekt von veröffentlichten Meinungsumfragen kann schliesslich eine Intensivierung der öffentlichen Diskussionen genannt werden. Solche Diskussionen wiederum dürften zu einem erhöhten Interesse und zu einer höheren Stimm- und Wahlbeteiligung  beitragen. Wenn also Meinungsumfragen keinen nachweisbaren Einfluss auf die Wählenden und Stimmenden haben, warum sind sie denn so allgegenwärtig in den Medien, als Wahlprognosen und Wahlbarometer? Ein Grund dafür könnte – abgesehen von den technischen Möglichkeiten der elektronischen Datenerfassung und -analyse, die erst seit einem guten Jahrzehnt in grossem Stil verfügbar sind – im veränderten Stellenwert der Politik im gesellschaftliche Leben gesehen werden: Politik ist heute viel mehr als früher zu einem beliebten Gegenstand der Unterhaltungsindustrie geworden. Ausdruck dieses paradigmatischen Wandels der Politik sind die «Medientrainings», denen sich Politikerinnen und Politiker unterziehen, und die unterhaltenden Fernsehshows, in denen sie sich – teilweise unter entwürdigenden Umständen –  ihrem Wahlvolk präsentieren.

Zurzeit, im Vorfeld der Nationalratswahlen 1995, gibt es kaum mehr eine Zeitung, die auf regelmässig publizierte Politbarometer mit Tabellen und bunten Grafiken verzichtet. Dabei werden die Meinungsumfragen, welche Momentaufnahmen darstellen, häufig fälschlicherweise zu Wahlprognosen verkürzt. Wahlvorschauen verkommen in den Medien immer mehr zu Trendanalysen; Bilanzierungen der geleisteten oder nicht geleisteten Parlamentsarbeit der Parteien, Analysen der Strategien der Parteien  und ähnliche wichtige Informationen erhalten nur noch zweite Priorität eingeräumt, es dominieren die spannungsgeladenen «Prognosen». Dies kann soweit gehen, dass die oben erwähnte vom Bundesrat erhoffte «kritische Einstellung» der Medien ausbleibt, wie dies etwa der Fall war, als der «Sonntags-Blick» vor einiger Zeit der SP Stimmengewinne in schwindelerregender Höhe und der CVP Verluste in ebenso abgründiger Tiefe voraussagte; kein selbstkritischer Kommentar, kein Sinnieren über einen möglichen Fehler in der Anlage der Befragung, nein: Endlich war Bewegung in die sonst so stabile Parteienlandschaft der Schweiz gekommen, und dies durfte dem  interessierten Publikum nicht vorenthalten werden!

Die Meinungsumfragen haben einen festen Platz in der «gehobenen Unterhaltung» erobert. Darüber sind nicht nur die Medienschaffenden glücklich, die fast pfannenfertige Informationen zugestellt erhalten. Auch die Angehörigen der Politologie-Zunft sind zufrieden: Die Politikwissenschaft hat unter anderem wegen solcher Meinungsumfragen – und natürlich auch den beeindruckenden Hochrechnungen – ihre verdiente Imageänderung in der Öffentlichkeit erfahren. Politologinnen und Politologen haben den Schritt aus dem Elfenbeinturm ins strahlende Rampenlicht der Massenmedien geschafft und erfahren von einer breiten Öffentlichkeit Respekt und Anerkennung.

Worin besteht nun der Nutzen der in den Medien veröffentlichten Ergebnisse der Meinungsumfragen? Da einerseits ein Einfluss der Meinungsumfragen auf die Meinungsbildung nur behauptet, nicht aber nachgewiesen werden kann, und da andrerseits die grösseren Parteien ihre Strategien wohl auf der Basis von eigenen, unter Verschluss gehaltenen Umfragen entwickeln, reduziert sich die Wirkung der Meinungsumfragen auf  die von ihnen provozierte Diskussionen in den Medien. Die Frage nach dem Einfluss von publizierten Meinungsumfragen auf das politische Verhalten muss so von der Politikwissenschaft gar nicht gestellt werden; es gibt andere, viel wichtigere Faktoren der Meinungsbildung als publizierte Meinungsumfragen. Wir brauchen keine Meinungsumfrage über die Wirkung von Meinungsumfragen.

 

Die zwei Todsünden
Wissenschaftlich konzipierte Meinungsumfragen wie die Vox- und die Univox-Analysen sind ein sinnvolles Instrument für ein besseres Verständnis der politischen Stimmungen und Prozesse. In den Massenmedien werden uns aber auch Ergebnisse von Umfragen präsentiert, welche die minimalsten Bedingungen einer seriösen Meinungsbefragung missachten. Nach Claude Longchamp, dem jungen Altmeister der politischen Meinungsforschung, sind folgende zwei Todsünden am häufigsten anzutreffen:

1. Manche Umfragen gehen von der Gesamtmenge der Stimmberechtigten aus, nicht nur von jenen, die wirklich vorhaben, an die Urne zu gehen. Damit wird die Stimmung in der stimmberechtigten Bevölkerung widergegeben, von der dann jedoch nur die Hälfte oder ein Drittel an die Urne geht.
2. Ein beträchtlicher Teil der Befragten ist zum Zeitpunkt der Umfrage noch unentschieden. Diese Befragten werden in den Prognosen häufig einfach weggelassen, in der Annahme, sie verteilten sich etwa zu gleichen Teilen auf die Pro- und Contra-Seite, bzw. auf die kandidierenden Parteien, was erfahrungsgemäss nicht stimmt. Gerade die Unentschiedenen aber können den Ausgang einer Abstimmung oder einer Wahl entscheidend bestimmen.

  

Werner Seitz, 41, leitet beim  Bundesamt für Statistik den Bereich «Abstimmungen und Wahlen». Zuvor war er Assistent am Forschungszentrum für schweizerische Politik an der Universität Bern. Er ist Autor verschiedener Analysen über die Nationalratswahlen 1991; 1994 erschien von ihm «Der lange Weg ins Parlament. Die Frauen bei den Nationalratswahlen von 1971 bis 1991»