Werner Seitz

    «Viele waren gerufen – nur wenige wurden gewählt. Die Frauen bei den Nationalratswahlen 1995»,
    in Eidgenössische Kommission für Frauenfragen (Hg.), Frauenfragen / Questions au féminin / Problemi al Femminile, 1996, Nr 1, S. 17–28.


        
     ===> en français: «Beaucoup d'appelées, peu d'élues. Les femmes et les élections au Conseil national de 1995» 
      

    Seit der Einführung des Frauenstimm- und -wahlrechts (1971) kommt die Frauenvertretung im Nationalrat – wie auch in den anderen politischen Gremien – nur schleppend voran: Der Frauenanteil stieg von Wahl zu Wahl nur gerade um 0,5 bis 4 Prozentpunkte. Nach den Nationalratswahlen 1991, als 35 Frauen (17,5%) gewählt wurden, beteuerten die meisten grösseren Parteien, dass sie nun – das heisst für die kommenden Wahlen von 1995 – wirklich «etwas für die Frauen» tun wollen, damit sich der Frauenanteil im Nationalrat endlich verbessere.

    Der Ball lag dabei namentlich bei den bürgerlichen Bundesratsparteien (FDP, CVP und SVP), welche 1991 zusammen zwar 104 Sitze im Nationalrat errangen, diese aber mit nur 12 Frauen besetzten. Der Druck der Öffentlichkeit auf die bürgerlichen Parteien vergrösserte sich im März 1993 schlagartig, als im Zuge der Nichtwahl von Christiane Brunner in den Bundesrat die Frage der Frauenrepräsentation in den politischen Institutionen breit diskutiert wurde.
    Da die bürgerlichen Bundesratsparteien Quoten in Parlament und Regierung dezidiert ablehnen, mussten sie sich - sollten ihre Beteuerungen auch Früchte tragen - besonders für die Listengestaltung zu den Nationalratswahlen 1995 etwas einfallen lassen.
    Die Empfehlungen, welche von den nationalen Parteigremien an die Kantonalsektionen ergingen, lassen sich durchaus sehen: Die FDP nannte als Zielvorgabe für die Nationalratswahlen 1995 30 bis 60 Prozent Frauen auf den Wahllisten, die CVP, welche für ihre Parteigremien bereits seit einiger Zeit einen Drittel Frauen fordert, regte einen Drittel Frauen auf den Wahllisten an, und die SVP mochte mit einer Empfehlung in derselben Grössenordnung nicht hintenan stehen. Die SPS, die ihre Frauenvertretung seit den achtziger Jahren kontinuierlich gesteigert hatte, empfahl einen Frauenanteil von 50 Prozent. Bei den Grünen gehört eine Frauenmehrheit seit je zum Markenzeichen, während die Freiheitspartei nichts von solchen Empfehlungen hält.
     
     

       
      ABKÜRZUNGEN DER PARTEIEN 

      FDP     Freisinnig-Demokratische Partei der Schweiz
      CVP     Christlichdemokratische Volkspartei der Schweiz
      SPS     Sozialdemokratische Partei der Schweiz
      SVP     Schweizerische Volkspartei 

      LPS      Liberale Partei der Schweiz

      LdU      Landesring der Unabhängigen
      EVP     Evangelische Volkspartei der Schweiz

      PdA     Partei der Arbeit der Schweiz
      FGA     Feministische und grün-alternative Gruppierungen (Sammelbegriff)
      GPS    Grüne Partei der Schweiz

      SD      Schweizer Demokraten (früher Nationale Aktion)
      FPS    Freiheitspartei der Schweiz (früher : Schweizer Auto-Partei)

      Übrige  Splittergruppen
       

     

    1 DIE FRAUENREPRÄSENTATION NACH PARTEIEN

    1.1 Die Kandidatinnen nach Parteien
    (Grafik G1)
    Die Kantonalparteien der FDP, CVP und SPS scheinen diesen Empfehlungen grosso modo Folge geleistet zu haben: Auf den Listen der FDP erreichten die Kandidatinnen gesamtschweizerisch einen Anteil von 29,5 Prozent, bei der CVP gar fast 37 Prozent und bei der SPS fast 47 Prozent. Die SVP dagegen verpasste ihr Ziel deutlich: Sie brachte es nur auf knappe 21 Prozent Frauen. (Vgl. Grafik G1). Insgesamt bewarben sich 990 Frauen und 1844 Männer um ein Nationalratsmandat; in Prozenten ausdrückt betrug der Frauenanteil 1995 fast 35 Prozent.
    Anteilmässig am meisten Kandidatinnen stellten bei den Nationalratswahlen 1995 wie schon bei den vergangenen Wahlen die Grünen (GPS und FGA), sie sind die einzigen, bei denen die Frauen die Mehrheit darstellen (58%). Am zweitmeisten Kandidatinnen finden sich bei der SPS (47%). Vergleichen wir die Wahllisten mit jenen von 1991, so können wir bei der CVP die grösste Steigerung des Frauenanteils feststellen (+9 Prozentpunkte); dieser relativ hohe Kandidatinnenanteil (37%) wurde namentlich durch die drei Frauenlisten in den Kantonen St. Gallen, Aargau und Waadt bewirkt. Bei der FDP steigerten sich die Kandidatinnen gegenüber 1991 um 2,5 Prozentpunkte (auf 29,5%), bei der SVP um 4 Prozentpunkte (auf 21%). Bei den Rechtsparteien ist die Verdoppelung des Frauenanteils auf den Wahllisten der FPS gegenüber 1991 auf 14 Prozent zu erwähnen.

    1.2 Die gewählten Frauen nach Parteien
    (Grafik G2a und G2b)
    Die gesetzlichen Bestimmungen für die Nationalratswahlen gestehen den Wählenden vielfältige Möglichkeiten zu, ihren politischen Willen kundzutun. Sie können nicht nur zwischen Parteien wählen, sondern auch zwischen den Kandidierenden: Diesen können sie eine doppelte Stimme geben (kumulieren), sie streichen oder auch einzelne Kandidierende von anderen Parteien wählen (panaschieren). Damit verändern sich die ursprünglichen Wahlvorschläge der Parteien teilweise beträchtlich, meistens sind es die Frauen, die durch solche Änderungen an Terrain verlieren: Bei den Nationalratswahlen 1995 betrug der Frauenanteil auf den Wahllisten, wie oben schon erwähnt, fast 35 Prozent, unter den Gewählten machten die Frauen nur noch 21,5 Prozent aus.
    Vergleichen wir die gewählten Frauen nach Parteien, so können wir bei den Nationalratswahlen 1995 eine parteipolitische Polarisierung der Frauenrepräsentation feststellen, die seit den frühen achtziger Jahren besteht: Grafik G2a zeigt: Die meisten gewählten Nationalrätinnen stammen aus den Reihen der SPS oder der Grünen (obwohl diese Parteien im Nationalrat zusammen weniger als einen Drittel aller Sitze innehaben). Spärlich sind dagegen die Frauen unter den Gewählten der bürgerlichen Parteien (denen jedoch mehr als die Hälfte aller Sitze im Nationalrat gehören). Noch nie wurde eine Frau von der EVP und den Rechtsparteien (SD und FPS) in den Nationalrat gewählt.
    Diese parteipolitische Polarisierung der Frauenrepräsentation im Nationalrat - relativ viele Frauen von den rot-grünen Parteien, wenige Frauen von den bürgerlichen Parteien, keine Frauen von den Rechtsparteien - manifestierte sich bei den Nationalratswahlen 1995 folgendermassen: Von den 43 gewählten Nationalrätinnen waren 19 Sozialdemokratinnen und 6 Grüne (GPS und FGA), 16 gehörten zu einer bürgerlichen Bundesratspartei (FDP, CVP und SVP), je eine Frau zum LdU und zur LPS. In Prozent ausgedrückt gehörten also 58 Prozent aller gewählten Nationalrätinnen einer der rot-grünen Parteien (SPS, GPS und FGA) an und 37 Prozent einer bürgerlichen Bundesratspartei (FDP, CVP und SVP).
    Grafik 2a
    In noch grösserer Deutlichkeit manifestiert sich diese parteipolitische Polarisierung der Frauenvertretung, wenn wir die Frauenanteile unter den Gewählten je Partei (Partei=100%) vergleichen. Grafik G2b zeigt: 1995 betrug der Frauenanteil bei den Grünen (GPS und FGA) 60 Prozent (6 von 10 Gewählten) und bei der SPS 35 Prozent (19 von 54 Gewählten). Gegenüber 1991 konnten die Frauen bei den Grünen ihren Anteil halten, bei der SPS steigerten sie sich um rund 6 Prozentpunkte auf 35 Prozent.
    Von den bürgerlichen Bundesratsparteien erfuhren die Frauen der FDP den grössten anteilmässigen Zuwachs
    (+6 Prozentpunkte auf 18%; das sind 8 Frauen von 45 Gewählten). Die CVP-Frauen steigerten sich um gute 3 Prozentpunkte auf 15 Prozent (5 Frauen von 34 Gewählten). Für FDP und CVP sind dies die höchsten Werte seit 1971. Einen anteilmässigen Rückschritt gar erfuhren die Frauen der SVP: 1995 wurden zwar wie schon 1991 3 SVP-Frauen gewählt, dadurch aber, dass die SVP gesamtschweizerisch 4 Mandate zulegte, sank der Frauenanteil von 12 Prozent auf 10 Prozent.
    Weiterhin keine Frauen wurden auf den Listen der Rechtsparteien (SD und FPS) gewählt.

    1.3 Die Wahlquote der Kandidatinnen und der Kandidaten nach Parteien
    (Grafik G3a und G3b)
    Oben wurde bereits erwähnt, dass zwischen der Gestaltung der Wahlliste und dem Wahlergebnis eine Diskrepanz besteht, da die Wählenden nicht nur die Möglichkeit haben, sich zwischen den Parteien zu entscheiden, sondern auch zwischen den einzelnen Kandidierenden. Dieses ‹Nadelöhr› der Wahl wird von den Kandidaten leichter passiert als von den Kandidatinnen.
    Auskunft darüber, wie gross die statistische Chance der Kandidierenden ist, gewählt zu werden, gibt die Wahlquote. Diese drückt das Verhältnis des Anteils der Gewählten zum Anteil der Kandidierenden aus. Die Formel zur Berechnung der Wahlquote der Frauen lautet folgendermassen:
     
     

       

                                           Anteil der gewählten Frauen
      Frauenwahlquote     =   ---------------------------------------------   x 100
                                           Anteil der Kandidatinnen


    Befindet sich das Verhältnis der Gewählten zu den Kandidierenden im Gleichgewicht (z.B. 30% Gewählte, 30% Kandidierende), so erhält die Wahlquote den Wert 100. Liegt die Wahlquote über 100, so bedeutet dies überdurchschnittlich gute Wahlchancen, liegt sie darunter, sind die Wahlchancen dementsprechend schlechter.
    Bei der Wahlquote der Männer können wir, wie Grafik G3a zeigt, seit 1971 eine erstaunliche Konstanz feststellen: Sie bewegte sich in den untersuchten 24 Jahren zwischen 109 und 122 Punkten, das heisst, die Männer hatten seit 1971 durchwegs überdurchschnittliche Wahlchancen. Die Wahlquote der Frauen lag dagegen zwischen 32 und 63 Punkten. Die Wahlchancen der Kandidatinnen waren also zwischen 2- bis 4mal schlechter als jene der Kandidaten; bei den Nationalratswahlen 1995 waren sie noch 1,9mal geringer.

    Grafik G 3a
    Grafik3b

    Differenzieren wir die Wahlchancen der Frauen und der Männer nach Parteien (vgl. Grafik G3b), so schnitten 1995 die Frauen der Grünen (GPS und FGA) am besten ab: Sie hatten als einzige bessere Wahlchancen als die Männer. Bei der SPS waren die Wahlchancen der Männer rund 1,5mal besser als jene der Frauen, bei der FDP 1,8mal. Mehr als 2mal grösser waren die Wahlchancen der Männer bei der SVP, und bei der CVP lag das Verhältnis der Wahlchancen der Männer zu jenen der Frauen gar über 3:1; Grund für diese schlechten Wahlchancen der CVP-Frauen waren der relativ hohe Anteil an Kandidatinnen auf den Wahllisten (37%) und der relativ niedrige Anteil an gewählten Frauen (15%).
     

    2 DIE FRAUENREPRÄSENTATION NACH SPRACHREGIONEN

    Bereits bei früheren Analysen der Nationalratswahlen wurde ein ‹Gefälle› zwischen den gewählten Frauen in der deutschsprachigen Schweiz und der Romandie festgestellt: Seit den achtziger Jahren haben die Frauen in der Romandie bedeutend grössere Schwierigkeiten, gewählt zu werden, als in der Deutschschweiz. Die folgenden Ausführungen sollen diese Feststellung für die Nationalratswahlen 1995 überprüfen.

    2.1 Die Kandidatinnen nach Sprachregionen
    (Grafik G4)
    Bei den Kandidatinnen fällt 1995 als erstes die Steigerung des Frauenanteils in der Romandie auf: Machten die Romandes 1991 noch knappe 30 Prozent auf den Wahllisten aus, so steigerten sie sich 1995 um rund 7 Prozentpunkte auf 37 Prozent (vgl. Grafik G4). Dies ist der höchste je in den drei schweizerischen Landesteilen erreichte Frauenanteil auf Wahllisten bei den Nationalratswahlen.
    In der deutschsprachigen Schweiz kandidierten 35 Prozent Frauen auf den Listen (+1,7 Prozentpunkte gegenüber 1991); den höchsten Anteil aller Kantone erreichten die Kandidatinnen mit 50 Prozent in Basel-Stadt.
    Dagegen sank im Tessin der Kandidatinnenanteil 1995 auf den drittschlechtesten Wert seit 1971; gegenüber 1991 beträgt der Rückgang 7,5 Prozentpunkte (auf 15,9%).
    Grafik 4

    2.2 Die gewählten Frauen nach Sprachregionen
    (Grafik G5)
    Ein markantes Merkmal der Nationalratswahlen 1995 ist, wie aus Grafik G5 ersichtlich, die Steigerung des Anteils der gewählten Frauen in der französischsprachigen Schweiz um 6 Prozentpunkte: Mit einem Anteil von fast 15 Prozent gewählten Frauen scheinen die Nationalrätinnen aus der Romandie ihre Talsohle durchschritten zu haben; von 1979 bis 1991 war ihr Anteil kontinuierlich von 13 Prozent auf 8 Prozent gesunken. Das Ergebnis von 1995 stellt zwar einen neuen Höchststand dar, es liegt aber um rund 10 Prozentpunkte unter dem Anteil der gewählten Frauen in der deutschsprachigen Schweiz. Die 7 Nationalrätinnen wurden in den Kantonen Waadt (4), Genf (2) und Freiburg (1) gewählt. Keine Frau in den Nationalrat delegierten 1995 die Kantone Wallis, Neuenburg und Jura.
    In der deutschsprachigen Schweiz hielt der kontinuierliche Zuwachs der gewählten Frauen seit 1971 an: 1995 ist in der Deutschschweizer Deputation in der Grossen Kammer jede vierte eine Frau. Mit 3,5 Prozentpunkten war der Zuwachs 1995 jedoch geringer als bei früheren Wahlen. Die 36 Nationalrätinnen reüssierten in 11 Kantonen; ohne Nationalrätin waren 1995 nur die Kantone Schwyz, Zug und Thurgau sowie sämtliche Majorzkantone (Uri, Obwalden, Nidwalden, Glarus und Appenzell-Innerrhoden).
    Erneut leer gingen 1995 die Kandidatinnen im Tessin aus. Abgesehen von den Nationalratswahlen 1979 wurde im italienischsprachigen Kanton seit der Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechts noch nie eine Frau gewählt.
    Grafik 5*

    2.3 Die Wahlquote der Kandidatinnen und der Kandidaten nach Sprachregionen
    Dadurch, dass der gesamtschweizerische Anteil der gewählten Frauen 1995 stärker anstieg als jener der Kandidatinnen, verbesserte sich die Frauenwahlquote auf gesamtschweizerische 63 Punkte: In der Deutschschweiz stieg sie um 7 Punkte auf rund 74, in der Romandie um 12 Punkte auf rund 40. Die Wahlquote bzw. die Wahlchancen sind in der deutschsprachigen Schweiz jedoch immer noch fast doppelt so gross wie in der französischsprachigen Schweiz.
    Vergleichen wir die Wahlchancen der Männer mit jenen der Frauen, so haben die Männer in der Deutschschweiz 1,5mal grössere Wahlchancen als die Frauen, in der Romandie sind die Wahlchancen der Männer gar fast 3,5mal grösser.
    Da im Tessin 1995 keine Frau gewählt wurde, gibt es für den italienischsprachigen Kanton auch keine Wahlquote der Frauen.
     

    3 DIE KANDIDATINNEN BEI DEN STÄNDERATS- UND REGIERUNGSRATSWAHLEN
    (Tabellen 1 und 2)
    Aufgrund der Ausführungen über die schwachen Ergebnisse der bürgerlichen Frauen bei den Nationalratswahlen in Kapitel 1 kann aber nicht der Schluss gezogen werden, dass die bürgerlichen Frauen bei den Wahlen generell geringere Chancen hätten als die rot-grünen Frauen: Bei den Ständerats- und kantonalen Regierungsratswahlen sind erstere nämlich seit einigen Jahren gegenüber letzteren im Vorteil.
    Bei den Ständeratswahlen (1994/95), die in den meisten Kantonen gleichzeitig mit den Nationalratswahlen durchgeführt wurden, errangen die Frauen nur gerade 8 der 46 Sitze (17%). Dabei ist, wie Tabelle 1 zeigt, die parteipolitische Verteilung der gewählten Frauen im Ständerat anders als im Nationalrat: Die meisten gewählten Ständerätinnen gehören nicht zu den rot-grünen Parteien, sondern zu den bürgerlichen Parteien, namentlich der FDP: 5 Frauen - also mehr als die Hälfte aller Ständerätinnen - sind Mitglied der FDP; CVP, SPS und LdU sind je mit 1 Frau in der Kleinen Kammer vertreten.
    Vergleichen wir die Frauenanteile innerhalb der ständerätlichen Deputationen, so sind die Werte der FDP ebenfalls am höchsten: Unter den FDP-Abgeordneten im Ständerat sind fast 30 Prozent weiblich. Bei der SPS liegt der Frauenanteil bei 20 Prozent (4 Männern, 1 Frau). Schlecht sieht die Frauenrepräsentation bei den anderen grossen Parteien aus: Die CVP stellt 15 Ständeräte und 1 Ständerätin (6%), die SVP 5 Ständeräte und keine Ständerätin.
    Ähnlich sind die geschlechterspezifischen Verhältnisse in den kantonalen Regierungen. Dies zeigt Tabelle 2. Von den insgesamt 166 kantonalen Regierungssesseln sind gegenwärtig 19 (11,4%) von Frauen besetzt. Nach Parteien aufgeschlüsselt, ist wiederum die FDP in Führung (mit 7 Regierungsrätinnen), gefolgt von der CVP (4 Frauen), der SP (3) und der SVP (2). Je eine Regierungsrätin gehört ferner zur LP bzw. zu den Grünen, eine ist parteilos. Anders als im Nationalrat stellen die bürgerlichen Parteien - namentlich die FDP und die CVP - die meisten Frauen in den kantonalen Regierungen.
    Worauf ist dieser parteipolitische Unterschied zwischen der Frauenvertretung im Nationalrat und im Ständerat bzw. den kantonalen Regierungen zurückzuführen?
    Suchen wir nach möglichen Gemeinsamkeiten zwischen dem Nationalrat einerseits und dem Ständerat bzw. den Kantonsregierungen andererseits, so stossen wir auf das Wahlsystem: Ständerat und kantonale Regierungen werden nach dem Majorzsystem gewählt, der Nationalrat jedoch nach dem Proporzsystem.
    Ein unterschiedlicher Effekt dieser beiden Wahlsysteme besteht darin, dass bei Majorzwahlen hauptsächlich die grossen Parteien eine Chance haben, während bei Proporzwahlen die kleineren Parteien angemessener zum Zug kommen. Wenn sich also die bürgerlichen Parteien bei Majorzwahlen zusammen auf eine Kandidatur einigen, so hat diese meistens Erfolg. Dies lässt sich anhand der Ergebnisse der jüngsten Ständeratswahlen illustrieren: Die bürgerlichen Parteien (FDP, CVP und SVP) erreichten von den 46 Sitzen 38, die SP 5, die LPS 2 und der LdU 1; die Grünen gingen leer aus.
    Tabelle 1 Ständerat 1971-1995)
    Tabelle 2 (Regierungsrat 1983-1995)

    Folgende Hypothese sei gewagt: Der «Brunner-Effekt» wirkte nicht nur bei den kantonalen Parlamentswahlen, welche seit März 1993 stattfanden und in denen namentlich die SP-Frauen stark zulegen konnten. Er wirkt auch - indirekt - bei den bürgerlichen Parteien, und zwar in dem Sinn, dass diese - die bei Majorzwahlen die bestimmenden Parteien sind - von der öffentlichen Meinung sanft gezwungen werden, gelegentlich Frauen als Kandidatinnen zu nominieren. Und diese Kandidatinnen haben, wenn sie von der eigenen Partei nicht ernsthaft konkurrenziert werden, grosse Chancen, gewählt zu werden.
    Dieser Vormarsch der bürgerlichen Frauen in politischen Gremien, die nach dem Majorzsystem bestellt werden, lässt sich wie folgt illustrieren: Zu Beginn der neunziger Jahre waren die bürgerlichen Parteien kaum mit Frauen im Ständerat und in den kantonalen Regierungen vertreten, und der Frauenanteil war in diesen beiden Gremien sehr niedrig: Mit Ausnahme von 1987 lag der Frauenanteil bis 1995 im Ständerat unter 10 Prozent; in den kantonalen Regierungen war er bis 1991 gar kleiner als 4 Prozent. Ab 1993 ist eine Steigerung der Frauenanteile in diesen Gremien augenfällig: Im Januar 1994 gehörten von den amtierenden Regierungsrätinnen 3 zur CVP und 2 zur FDP, im Januar 1995 hatten diese beiden Parteien ihre Frauenvertretung auf 4 (CVP) bzw. 5 vergrössert und im Mai 1995 gar auf 4 (CVP) bzw. 7 (FDP). Mit Blick auf die gewählten männlichen Kollegen in den kantonalen Regierungen kann jedoch nicht von einem hohen Frauenanteil bei den bürgerlichen Parteien gesprochen werden; er liegt nur gerade bei rund 10 Prozent.
    So kann abschliessend festgehalten werden, dass in politischen Gremien, die nach dem Proporzsystem bestellt werden - im Nationalrat wie übrigens auch in den kantonalen Parlamenten - die Frauen besser vertreten sind als in Gremien mit Majorzwahl. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass bei Proporzwahlen die rot-grünen Parteien besser zum Zuge kommen und dass mit dem Anteil der rot-grünen Parteien auch der Anteil der gewählten Frauen steigt. In Gremien mit Majorzwahl sind die rot-grünen Parteien untervertreten und der Frauenanteil ist bescheiden; die meisten gewählten Frauen gehören namentlich seit 1993 den bürgerlichen Parteien an.

    4 DER ERFOLG DER FRAUENLISTEN
    (Tabelle 3)
    Es gibt eine Reihe von Instrumenten, um den Anteil der Frauen in den Parlamenten zu steigern. Am erfolgversprechendsten ist die privilegierte Kumulierung von einzelnen Frauen. Diese Frauen erhalten von den unveränderten Wahlzetteln, die bei den Nationalratswahlen 1991 noch fast 40 Prozent aller Wahlzettel ausmachten, einen beträchtlichen Vorsprung auf ihre männlichen Konkurrenten und dürften mit grosser Sicherheit gewählt werden. Die privilegierte Kumulierung wird nur selten angewendet, da sie umstritten und politisch nur schwer durchsetzbar ist. Immerhin wurde beispielsweise bei den Nationalratswahlen 1991 der Vertreter des Berner Juras auf der Liste der SVP des Kantons Bern als einziger gegenüber den anderen Kandidierenden kumuliert, was diesem - und damit dem Berner Jura - denn auch den Sitz im Nationalrat «garantierte».
    Eine immer populärere Massnahme stellen die nach Geschlecht getrennten Wahllisten dar. Tabelle 3 zeigt: Erstmals tauchten «Frauenlisten» bei den Nationalratswahlen 1987 auf: Die FDP Solothurn und die SP Bern zogen mit je einer Frauen- und einer Männerliste in den Wahlkampf. Erfolgreich war nur die Frauenliste der Berner SP (2 Sitze). Bei den Nationalratswahlen 1991 wurden bereits sieben nach Geschlecht getrennte Wahllisten eingereicht. Vier stammten von der SP (in Zürich, Bern, Freiburg und Genf), eine von den Grünen (in St. Gallen) und eine - wie bereits 1987 - von der Solothurner FDP. Ebenfalls mit einer Männer- und einer Frauenliste traten in Basel-Landschaft die nationalistischen SD an.1) Erfolgreich waren drei SP-Listen und die GP-Liste; auf ihnen schafften 5 SP-Frauen (2 ZH, 2 BE, 1 GE) und 1 GP-Frau (SG) den Sprung nach Bern.
    Bei den Nationalratswahlen 1995 schliesslich waren es bereits je zehn Frauen- und Männerlisten. Fünf wurden von der SP aufgestellt (Bern, Freiburg, St. Gallen, Thurgau und Genf), zwei von der GP (St. Gallen und Thurgau) und drei von der CVP (in St. Gallen, Aargau und Waadt). Der SP brachten sie sechs Frauensitze und elf Männersitze ein und der GP einen Frauensitz (in St. Gallen). Gänzlich erfolglos waren die Frauenlisten der CVP, während es die entsprechenden CVP-Männerlisten in diesen Kantonen immerhin auf sieben Sitze brachten.
    Wie schon bei den Nationalratswahlen 1991 kann auch anhand der Ergebnisse von 1995 nicht eine allgemein gültige Einschätzung für die Wirkung der Geschlechterlisten abgegeben werden. Auch 1995 haben sich die Frauenlisten in einigen Kantonen bei einigen Parteien positiv bewährt, in einigen haben sie den Frauen geschadet. Positiv war die Wirkung - wie schon 1991 - für die SP Genf, welche künftig zwei Frauen und zwei Männer ‹nach Bern› schickt; ihre Sitzzahl von 2 auf 3 steigern konnten die Frauen der SP Bern.
    Gar nichts gebracht haben die geschlechtergetrennten Listen den Frauen der CVP. In St. Gallen wurde gar – wegen der Frauenliste? - die seit 1971 bestehende Tradition gebrochen, dass immer eine CVP-Frau in den Nationalrat gewählt wird. Im Thurgau wurde auf der Frauenliste der SP die bisherige Vertreterin abgewählt; der SP-Sitz ging an die SP-Männerliste.
    Bei den Nationalratswahlen 1991 waren die Geschlechterlisten der SP Zürich ein Beispiel für die kontraproduktive Wirkung dieser Massnahme: Die SP-Frauen, welche im Sommer 1991 noch drei Mandate innehatten, mussten sich bei den Wahlen im Herbst 1991 mit 2 Sitzen begnügen, während sich die Männer auf 5 Sitze steigerten. Für die jüngsten Nationalratswahlen hatte die SP Zürich ihre Schlüsse gezogen: Sie stellte eine gemischte Wahlliste auf und ‹puschte› ihre Kandidatinnen zusätzlich, indem sie z.B. eine Frau gleichzeitig auch als Kandidatin für den Ständerat und eine andere für den Regierungsrat bestimmte. Die Wirkung der gemischten Wahlliste, flankiert mit der Möglichkeit zu Sonderauftritten, lässt sich sehen: Von den neun SP-Sitzen wurden sechs von Frauen und drei von Männern besetzt; neu in den Nationalrat gewählt wurden unter anderem auch die Ständerats- und die Regierungsratskandidatin.
    Wie diese aktuellen Beispiele der Nationalratswahlen 1995 zeigen, kann die Frage nicht heissen: «Frauenlisten ja oder nein?». Für bestimmte Situationen kann eine Frauenliste erfolgversprechend sein, für andere wiederum nicht. Es ist also nötig, vorgängig die möglichen Wirkungen eines Wahlkampfes mit nach Geschlecht getrennten Listen abzuschätzen. Insgesamt aber kann festgehalten werden, dass die Erfolgsbilanz der Frauenlisten nicht überwältigend ist. Es gibt mehr elektorale Misserfolge mit Frauenlisten als Erfolge. Dazu kommt, dass Frauenlisten verhindern, dass Frauen während der Legislaturperiode auf Sitze von zurücktretenden Männern nachrutschen und bei den kommenden Wahlen vom ‹Bisherigen›-Bonus profitieren können.
    Tabelle 3
     

    FAZIT
     

      1. Bei den Ausführungen über die Anteile der Kandidatinnen und der gewählten Frauen haben wir eine grosse Ähnlichkeit zwischen dem Anteil der Kandidatinnen und dem Anteil der gewählten Frauen festgestellt: Parteien mit einem grossen Kandidatinnenanteil haben tendenziell auch einen grossen Anteil an gewählten Frauen und umgekehrt. Daraus lässt sich als erste Bedingung für die Vergrösserung der Repräsentation der Frauen im Nationalrat ableiten, dass mehr Kandidatinnen aufgestellt werden müssen. Eine Steigerung der Zahl der Frauen auf den Wahllisten ist namentlich angesagt bei den Rechtsparteien (FPS und SD), der SVP und der LPS; ihre Frauenanteile liegen deutlich unter 30 Prozent. Bei der FDP beträgt der Anteil an Kandidatinnen nur gerade 29,5 Prozent.

      2. Mehr Frauen auf den Wahllisten bedeutet nicht automatisch auch mehr Frauen im Parlament; das beweist etwa das Faktum, dass 1995 zwar fast 35 Prozent Frauen auf den Wahllisten kandidierten, dass im Nationalrat die Frauen aber nur 21,5 Prozent ausmachen. Eine erhöhte Frauenpräsenz auf den Wahllisten sollte vielmehr das Produkt einer parteiinternen Willensbildung, einer Haltung der Partei sein, welche Frauen in den verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Bereichen zu einer angemessenen Repräsentation verhelfen will. Zudem muss diese Haltung der Partei den Wählerinnen und Wählern plausibel und vertraut gemacht werden. Ein Beispiel für ‹Frauenförderung im Elfenbeinturm› ist dagegen die CVP, die über 35 Prozent Frauen (124) auf ihren Wahllisten hatte, von denen nur gerade 5 die Wahl schafften.

      3. Um die Frauenvertretung im Parlament zu verbessern, genügt es nicht, abstrakte ‹Frauenförderung› zu machen; vielmehr müssen einzelne Frauen gezielt und über eine längere Zeit hinweg ‹aufgebaut› werden. Sie müssen immer wieder die Möglichkeit erhalten, sich politisch zu profilieren und sich in der interessierten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Jüngstes Beispiel für eine solche Aufbau-Arbeit - allerdings weniger in langfristiger Perspektive - ist die SP Zürich, welche parallel zu den Nationalratswahlen 1995 zwei ihrer Kandidatinnen das zusätzliche Forum einer Ständeratswahl bzw. Regierungsratswahl bot.

      4. Nach Geschlechtern getrennte Wahllisten scheinen immer mehr in Mode zu kommen, neuerdings auch bei den bürgerlichen Parteien. Abgesehen davon, dass Frauenlisten generell eine zweischneidige Massnahme sind - sie können je nach Situation positive wie negative Wirkungen haben - scheinen sie nur bei jenen Wählerinnen und Wählern auf Zustimmung zu stossen, welche Frauenförderungsmassnahmen grundsätzlich positiv gegenüber stehen. Dies ist eher bei den grünen und linken Parteien der Fall. Bürgerliche Wählerinnen und Wähler scheinen vom symbolischen Charakter der Frauenlisten nicht angesprochen zu werden: Auf den fünf seit 1987 bei den Nationalratswahlen eingereichten Frauen- und Männerlisten der bürgerlichen Parteien wurde noch nie eine Frau gewählt, die Frauenlisten der FDP und der CVP halfen letztlich einzig mit, den Männerlisten ihre Sitze - insgesamt 12 - zu sichern.
       
       
       

    Anmerkung:
    1) Nicht unter diesen Typus von Frauenliste fallen die Frauenlisten der Solothurner Grünen, welche ohne entsprechende Männerliste antraten, sowie der grün-alternativen Frauengruppierung FraP! aus Zürich. Beide Listen waren erfolgreich (je 1 Gewählte).