Werner Seitz

    Rezension:
    Kriesi, Hanspeter /  Linder, Wolf / Klöti, Ulrich (Hg.),  Schweizer Wahlen 1995. «Swiss electoral studies» (selects), Band 2. Bern/Stuttgart/Wien: Haupt, 342 Seiten, 1998
    in Schweizerische Zeitschrift für Politische Wissenschaft, 4/1998, Nr. 3, S. 131–136.


       

    Noch nie wurde eine Analyse der Nationalratswahlen derart ambitiös konzipiert und angekündigt – Projektleiter Peter Farago versprach gar «den Neubeginn» in der schweizerischen Wahlforschung 1) – und noch nie mussten sich Interessierte so lange gedulden, bis der Schlussbericht mit den Detailinformationen vorlag. Doch das lange Warten hat sich gelohnt.
    Bereits im Frühjahr 1996 hatte Peter Farago mit einem knapp 50 Seiten starken Bericht2) einen ersten Einblick in das erfasste Material gegeben: Anders als bei den früheren Meinungsbefragungen zu den Nationalratswahlen von 1979 bis 1991, welche das GfS-Forschungsinstitut zusammen mit dem politologischen Institut der Universität Bern durchführte und auswertete, wurden im Rahmen des Projekts «selects» nicht 1000, sondern 2000 Wahlberechtigte in der gesamten Schweiz befragt. Ausgehend von der Annahme, dass die eidgenössischen Wahlen im Grunde 26 gleichzeitig stattfindende kantonale Wahlen seien, wurden sodann zehn Kantone ausgewählt; in diesen wurde die nationale Stichprobe je auf 600 bis 900 Befragungen aufgestockt. Es waren dies die Kantone Zürich, Bern, Luzern, Glarus, Schaffhausen, Aargau, Tessin, Waadt, Wallis und Genf. Die Stichprobe der «selects»-Untersuchung bestand somit insgesamt aus rund 7300 Wahlberechtigten, die übrigens nicht nur zu ihrem Verhalten und zu ihren Motiven bei den Nationalrats-, sondern auch bei den Ständeratswahlen befragt wurden.
    Sinnvollerweise teilen sich die drei politologischen Institute der Universitäten Zürich, Bern und Genf, welche seit über zehn Jahren auch die Vox-Analysen zu den eidgenössischen Volksabstimmungen alternierend verfassen, die Arbeit auf: Zum Kern des Projektteams gehörten neben Projektleiter Peter Farago die drei Politologie-Professoren Hanspeter Kriesi (Universität Genf), Wolf Linder (Universität Bern) und Ulrich Klöti (Universität Zürich) – sie fungieren auch als Herausgeber des hier besprochenen zweiten Bandes von «selects» – sowie je eine Assistentin bzw. Assistent dieser drei Institute (Ruth Nabholz, Bern, Daniel Schloeth, Zürich und Boris Wernli, Genf), welche im Rahmen dieses Projekts ihre Dissertation verfassen. Sie alle steuerten einen Aufsatz zum Schlussbericht von «selects» bei. Weitere Beiträge stammen von Klaus Armingeon (Universität Bern), Matthias Brunner, Thanh-Huyen Ballmer-Cao/Lea Sgier (alle Universität Genf).

    Ruth Nabholz eröffnet den Reigen der Texte mit einem Beitrag über die längerfristigen Trends bei den eidgenössischen Wahlen. Da sie vor allem die Wahlergebnisse und Umfragedaten der Nationalratswahlen seit 1971 untersucht, stellt ihr Beitrag gewissermassen ein Bindeglied zwischen der «alten» und der «neuen Wahlforschung» dar. Fazit ihrer Analyse: In der Schweiz ist die Bedeutung der Parteien rückläufig und die historischen Konfliktlinien – namentlich die Konfession – haben an Einfluss eingebüsst, ohne dass neue Konfliktlinien an ihre Stelle getreten wären. Die Schweiz ist so ein Land des «dealignment».

    Einen Leckerbissen serviert Ulrich Klöti mit Ergebnissen über die Profile der Wählenden der Bundesratsparteien (FDP, CVP, SPS, SVP) sowie der LPS und der Grünen. Die Ergebnisse überraschen all jene, welche bislang «journalistischen Klichees» erlegen sind und beispielsweise den Zürcher Freisinn als ausgesprochen wirtschaftsfreundlich einschätzten oder fundamentale Differenzen zwischen der Zürcher und der Berner SVP sahen. Die Analyse der sechs Parteien ergab nun aber, dass die Wählenden dieser Parteien in allen zehn untersuchten Kantonen relativ homogene Wertvorstellungen haben. Besonders ausgeprägt ist die Homogenität bei der CVP. Bei der SVP besteht zwischen Zürich und Bern im Wesentlichen nur eine einzige Differenz – in der Europa-Frage. Bei der FDP unterscheidet Klöti neben der «Mainstream»-FDP (ZH, BE, AG, SH) eine progressive FDP (VD, VS, GE) und zwei Sonderfälle (LU, TI). Bei SPS und Grünen schliesslich stellt Klöti Unterschiede zwischen deutschsprachiger und französischsprachiger Schweiz fest: Die «welschen» SP-Wählenden sind mehr in traditioneller Weise sozialistisch und internationalistisch, dafür gesellschaftspolitisch konservativer und weniger ökologisch als die SP-Wählenden in der Deutschschweiz. Die Wählenden der Grünen wiederum sind in der Romandie offener für Europa, aber innenpolitisch konservativer (Betonung von «Ruhe und Ordnung»!) als die Wählenden der Grünen in der Deutschschweiz.
    Eine Positionierung der Wählenden auf der Links-Rechts-Achse, die immer noch zu den zentralen Konfliktlinien gehört, ergab folgendes Bild: Am linken Rand befinden sich die Grünen, ihnen schliesst sich die SP an (in Zürich und in der Westschweiz vertauschen diese beiden Parteien ihre Positionen). Dem rotgrünen Lager steht das Lager der bürgerlichen Parteien gegenüber, welches in homogene Einheiten differenziert ist: Relativ am nächsten der Mitte – und damit auch den rot-grünen Parteien – steht die CVP, rechts flankiert von der FDP; den rechten Rand deckt die SVP bzw. die LPS ab.

    Zu den bemerkenswerteren Aufsätzen gehört der Beitrag von Boris Wernli über die Wahlbeteiligung. Sein Befund überrascht: Die unterschiedliche Partizipation bei den Wahlen 1995 kann nicht mit den Variablen erklärt werden, welche in der internationalen Wahlforschung als partizipationsrelevant gelten. Namentlich gibt es nach Wernli keinen signifikanten Einfluss der individuellen Merkmale (wie Geschlecht, Bildung, Einkommen oder Berufsgruppe) auf die Wahlbeteiligung; nur gerade das Alter und der Hausbesitz beeinflussen die Wahlbeteiligung positiv.
    Ein signifikanter Zusammenhang besteht dagegen zwischen der Wahlbeteiligung und den politisch-psychologischen Variablen des politischen Interesses, der politischen Kenntnisse der Wählenden und der Nähe zu einer Partei. Paradigmatisch lässt Wernli diese Variablen im Kanton Schaffhausen fokussieren, wo bekanntlich noch Stimmzwang herrscht. Bei den SchaffhauserInnen stellt Wernli fest, dass ihr Informationsniveau im interkantonalen Vergleich sehr hoch sei. Er führt dies auf den Stimmzwang zurück, dem er einen egalisierenden Einfluss auf die Wahlbeteiligung zuschreibt: Während jene Personen, die bereits mit politischen Ressourcen und Motivationen ausgestattet seien, sich sowieso an den Wahlen beteiligten, würden sich dank des Stimmzwangs auch jene an den Wahlen beteiligen, die weniger interessiert seien; damit würde deren politische Kompetenz verbessert.
    Bezüglich der unterschiedlichen Wahlbeteiligung in der Westschweiz und in der Deutschschweiz vermutet Wernli als Ursache die direkte Demokratie, welche in der Deutschschweiz stärker verankert sei: Wo die Stimmberechtigten immer wieder zur Urne gerufen würden, seien ihr politisches Interesse und ihre politischen Kenntnisse grösser; dies wiederum bewirke eine höhere Beteiligung auch bei Wahlen. Weiter stellt Wernli fest, dass in der Deutschschweiz nicht nur die Wahlbeteiligung höher sei als in der Westschweiz; die Personen, die sich in der Deutschschweiz an den Wahlen beteiligten, hätten deutlich grössere politische Kenntnisse als jene in der Westschweiz, welche noch zu einem beträchtlichen Teil aus Pflichtgefühl und Tradition an die Urne gingen.3)
    Der interessante Aufsatz von Boris Wernli wird durch einen Mangel beeinträchtigt, der sich auch an anderen Stellen des Buches sichtbar macht: Die Texte dieses Sammelbandes wurden nicht oder ungenügend lektoriert. Bei Wernli, der seinen Text offensichtlich in französischer Sprache verfasst hat, hätten mit etwas mehr Sorgfalt die orthographischen und grammatikalischen Fehler und die teilweise schwerfälligen Satzkonstruktionen vermieden werden können. Völlig unverständlich ist namentlich, dass ein Schlüsselbegriff von Wernlis Text – der «Stimmzwang» – mit «obligatorischer Abstimmung» übersetzt wurde.

    Diese Kritik des mangelhaften Lektorats gilt nicht für den Text der Genfer Politologie-Professorin Thanh-Huyen Ballmer-Cao und deren Assistentin Lea Sgier, welche die Wahlbeteiligung in geschlechterspezifischer Hinsicht untersuchen. Überraschend ist ihre Feststellung, dass die berufliche Tätigkeit, welche gemeinhin als mobilisierende Variable für die politische Partizipation gilt, bei den Schweizerinnen anders wirkt: Die vollzeitlich berufstätigen Frauen beteiligen sich signifikant weniger häufig an den Wahlen als teilzeitbeschäftigte Frauen oder Hausfrauen. «Demobilisierend» wirken bei den Frauen weiter auch die Merkmale «geschieden» oder «verwitwet» sowie das fortgeschrittene Alter – ganz im Gegensatz zu den Männern, die in ähnlicher Lage noch eifrige Urnengänger sind.
    Nach Ballmer-Cao/Sgier ist die Wahlbeteiligung am höchsten bei den ledigen Frauen, die teilzeitlich arbeiten und die über eine gute Bildung und ein hohes Haushaltseinkommen verfügen. Von diesem Prototyp her erwarten die Autorinnen eine «Ent-Homogenisierung der weiblichen Geschlechtergruppe», worunter sie das Phänomen verstehen, dass künftig vermehrt ein Teil der wahlberechtigten Frauen hohe und ein anderer Teil sehr niedrige Beteiligungswerte erzielen dürfte.

    Wolf Linder untersucht in seinem Aufsatz die verschiedenartigen Einflüsse auf das schweizerische Wählerverhalten. Wichtigstes Motiv für den Wahlentscheid bleibt aufgrund der Analyse der «selects»-Daten nach wie vor die Nähe zu einer Partei bzw. die Parteiidentifikation – trotz des von Nabholz festgestellten Prozesses des «dealignment».
    Linder fördert auch einige überraschende Befunde zu Tage: So spielt die Persönlichkeitswahl nur eine geringe Rolle, was angesichts der personalisierten Wahlkampagnen und Medienberichte etwas zu erstaunen vermag. Weiter fand Linder in seinen Daten die häufig vorgebrachte Einschätzung widerlegt, in der schweizerischen Referendumsdemokratie seien Wahlen und Volksabstimmungen «zwei verschiedene Paar Stiefel». Nach Linder spielen die Sachfragen in den Wahlen auch unter den institutionellen Bedingungen der direkten Demokratie eine Rolle; bei der Wahl für die SVP war z.B. die Europa-Frage gar ausschlaggebender als die Parteiidentifikation. Linder entdeckt schliesslich noch einen neuen Traditionsfaktor für die Parteiwahl: das Elternhaus. Um diesen Faktor jedoch, der die Parteiwahl gewissermassen als familial bestimmt betrachtet, ernsthaft in die wissenschaftliche Diskussion einzuführen, müsste meines Erachtens die Variable «Elternhaus» noch etwas präziser operationalisiert und namentlich gegenüber dem soziokulturellen Milieu deutlicher abgegrenzt werden.

    Daniel Schloeth führt in einem gut strukturierten Text und mit sicherer Sprache in die neueren Modelle des «rational choice» ein. Bei der Anwendung der Theorie des «ökonomischen Wählens» auf die Umfragedaten der Nationalratswahlen 1995 kommt er zum Schluss, dass sich die klassischen Fragen des «rational choice» anhand der vorliegenden Daten «nicht im Geringsten» verifizieren lassen: So war die Angst vor Arbeitslosigkeit oder die persönliche schlechte wirtschaftliche Lage kein Grund, eine Oppositionspartei (Grüne oder Rechte) oder eine Bundesratspartei mit Oppositionsimage (SPS, SVP) zu wählen. Vielmehr haben die SVP und die Grünen überdurchschnittlich viele Stimmen von jenen Wählenden erhalten, welche die allgemeine Wirtschaftslage als positiv beurteilten. Für Schloeth stellt die Schweiz – aufgrund des föderalistischen Wahlsystems und aufgrund des Konkordanzsystems, in dem keine Partei allein die Verantwortung für die Wirtschaftspolitik trägt – kein fruchtbarer Boden für den Nachweis des ökonomischen Wählens dar. In seiner Dissertation, die fast gleichzeitig mit dem hier besprochenen Sammelband erschienen ist, stellt Schloeth den Versuch in Aussicht, das schweizerische Wahlverhalten durch weitere Modelle (das soziologische und das sozialpsychologische) zu erklären.4)

    Neuland betritt Hanspeter Kriesi mit seiner Analyse der Ständeratswahlen, zu denen ebenfalls die Umfragedaten aus den zehn Kantonen vorliegen. Sein Interesse richtet sich auf das Phänomen des strategischen Wählens, worunter er das Faktum versteht, dass die Wählenden nicht (ausschliesslich) für die von ihnen bevorzugte Partei bzw. Kandidierenden stimmen. Veranlasst und vorstrukturiert wird strategisches Wählen durch die kantonal verschiedenen Stärken der Parteienlager einerseits und die jeweils abgeschlossenen Parteienallianzen (gemeinsame Listen) andrerseits, welche beide die Wahlchancen von Kandidierenden unterschiedlich festlegen. Kriesis Befund: Nur etwas weniger als die Hälfte der Wählenden entscheiden sich für ihre beiden am meisten bevorzugten Kandidierenden; etwas mehr als ein Drittel füllt nur eine der beiden Zeilen aus, macht also von der zweiten Stimme gar keinen Gebrauch.
    Entgegen der verbreiteten Annahme sind Ständeratswahlen keine Persönlichkeitswahlen. Nach Kriesis Analyse bevorzugen die Wählenden jene Kandidierenden, welche ihrer Parteipräferenz und der Positionierung auf der Links-Rechts-Skala entsprechen. Insofern die bürgerlichen Parteien in sämtlichen Kantonen in der Mehrheit sind, haben die Kandidierenden der bürgerlichen Parteien insgesamt deutlich bessere Wahlchancen. Kriesi bemerkt dazu lakonisch: «Die Schweizer neigen dazu, wechselnde Persönlichkeiten der immergleichen Parteien in den Ständerat zu wählen».

    Matthias Brunner untersucht die Beziehung des Alters zur Politik (Wahlbeteiligung, Parteinähe und Wahlentscheid). Er betrachtet dabei das Alter als Indikator des Einflusses von verschiedenen Effekten, so etwa der sozialen Position, die auf dem Lebensweg erreicht wird, oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation. Mit einer Reihe von Berechnungen testet er die Erklärungskraft dieser verschiedenen Effekte. Dabei gibt die späte Einführung des Frauenstimm- und -wahlrechts in der Schweiz (1971) Brunner zusätzlich die Möglichkeit, den generationenspezifischen Effekt der Einführung des Frauenstimm- und -wahlrechts zu analysieren, wurden doch die nach den Nationalratswahlen 1975 befragten Wählerinnen weitgehend in einem Milieu sozialisiert, das nur das Männerstimmrecht vorsah, während für die 1995 befragten Frauen das Frauenstimmrecht mehrheitlich «normal» war.

    Peter Farago geht in seinem Aufsatz von der seit einiger Zeit diskutierten «Zwei-Drittels-Gesellschaft» aus und untersucht die Frage, ob Arme anders wählen als Nicht-Arme. Dabei versteht er unter «Armut» materielle Bedürftigkeit, gemessen am Einkommen. In seiner klar strukturierten Studie kommt er zum Schluss, dass weder bei der Partizipation noch bei der Wahlentscheidung signifikante Unterschiede bestehen: Die Wahlbeteiligung der Armen ist leicht niedriger als jene der Nicht-Armen und der Wahlentscheid ist nahezu identisch. Bemerkenswert ist, dass ein ansehlicher Teil der Armen sozialstaatlichen Optionen ablehnend gegenübersteht. Fazit von Farago: Die Einkommensarmut zeigt keinen wesentlichen Effekt auf das politische Verhalten. Farago erklärt dies mit dem Faktum, dass nur ein begrenzter Teil der Armen über sehr lange Zeit arm ist, sondern dass viele im Laufe ihres Lebens ein- oder mehrmals über die Armutsschwelle hin- und herüber wechseln. Somit ist für das Wahlverhalten nicht so sehr die sich verändernde materielle Situation massgebend, sondern die über die Zeit hinweg stabileren (trägeren) Einstellungen und Wertorientierungen.

    Im letzten Beitrag stellt der Berner Politologie-Professor Klaus Armingeon einige Ergebnisse der Studie in einen breiteren internationalen Rahmen und relativiert die These der Besonderheit der Schweizer Wahlen. Zwar gehöre die Schweiz zu jener Gruppe von Ländern, in denen sich das Wahlverhalten stark nach Regionen unterscheide; doch gebe es auch andere europäische Länder mit grossen Unterschieden zwischen den regionalen politischen Kulturen. Armingeon nennt Spanien, Italien und Belgien, welche ähnlich grosse Unterschiede im Wahlkontext aufwiesen wie die Schweiz.
    Damit kommt die Studie wieder zu ihrer Ausgangshypothese zurück: Die Schweizer Wahlen sind zwar kantonale Wahlen, da sie in den Kantonen stattfinden und von den zum Teil recht unterschiedlichen kantonalen Kontexten geprägt sind. Diese Aussage muss nun in zweifacher Hinsicht relativiert werden: Erstens gibt es, wie Klöti aufgrund seiner Analyse der kantonalen Parteien festgestellt hat, sehr wohl ein gesamtschweizerisches Parteiensystem – mit kantonalen Differenzierungen – und zweitens stellen die kantonalen Besonderheiten im europäischen Vergleich nichts Aussergewöhnliches dar. Klöti/Linder formulieren dieses Fazit in ihrer lesenswerten vergleichenden Synthese folgendermassen: Die Wählenden in der Schweiz sind aufgrund der diversen Befunde nicht ein «Sonderfall», sondern in vielen Teilen ein «Regelfall» mit bemerkenswerten «Eigenheiten».

    Eine abschliessende Würdigung dieses Werkes ist einfach: Der Neubeginn, den Peter Farago angekündigt hat, wurde geschafft. Damit sich nun aber die schweizerische Wahlforschung auch weiterentwickeln und konsolidieren kann, muss auf diesen Schienen weitergefahren werden, das heisst, die Nationalratswahlen 1999 müssen auf ähnliche Weise analysiert werden. «Conditio sine qua non» ist dabei, dass keine gravierende Konzeptänderung vorgenommen wird, sondern dass eine möglichst grosse Vergleichbarkeit mit den 95er-Daten angestrebt wird, welche mit der Zeit auch längerfristige Entwicklungen sichtbar werden lässt.5) Zu wünschen wäre weiter auch, dass gewisse überraschende Befunde wie Wernlis demokratiefördernder «Stimmzwang» oder Linders «Elternhaus»-These genauer operationalisiert und überprüft werden.
    Begrüssenswert wäre es ferner, wenn diese Nachfolgestudie dem Aspekt der Präsentation der Ergebnisse etwas mehr Aufmerksamkeit schenken würde. Am Beispiel des Textes von Boris Wernli wurde bereits auf die Mängel des Lektorats hingewiesen. Weitere Beispiele könnten angefügt werden, so etwa die störende (und falsche) Vermischung von % und Prozentpunkten oder – störender – die unglücklich bis gar nicht gelöste Frage der geschlechtsneutralen Formulierungen: Linder und Armingeon versuchten sich in einem Springen von weiblicher zu männlicher Form, was ihnen aber nicht konsequent gelingt und entsprechend befremdend wirkt; auf Seite 314 wird gar der Begriff der Gesamtwählerschaftin kreiert. Geschlechtsneutrale Formulierungen sollten heute – zumindest in sozialwissenschaftlichen Publikationen – eine Selbstverständlichkeit sein. Wie es gemacht werden kann, ist beispielsweise in den Richtlinien der Bundeskanzlei nachzulesen.6)
    Die Studie, wie sie vorliegt, hat weitgehend den Charakter eines Arbeitsberichts. Für Interessierte, die sich weniger an den einzelnen Beiträgen erfreuen wollen, sondern in der gebotenen Kürze gewünschte Informationen finden möchten, fehlt jedoch ein Schlagwort- und Tabellenverzeichnis. Dies ist bedauerlich, entgeht doch so der Leserin, dem Leser, dass «selects 2» beispielsweise nicht nur je einen Aufsatz über das «Geschlecht» und über das «Alter» beinhaltet, sondern dass sich zu diesen beiden Stichworten noch in mindestens vier Aufsätzen zahlreiche Tabellen und Erläuterungen finden.
    Diese Verbesserungsvorschläge sind jedoch im Vergleich zur inhaltlichen Substanz der besprochenen Publikation eher akzidentiell – doch sind es nicht gerade die PolitologInnen, die häufig von der Bedeutung der «Kommunikation» sprechen? Ich wünsche dem Projekt «neue Wahlforschung», dass es sich bei den kommenden Nationalratswahlen von 1999 auf demselben quantitativen und qualitativen Niveau konsolidieren kann, dass es dazu nochmals auf die nötige finanzielle und personelle Unterstützung zählen kann und dass es sich – auch in längerfristiger Perspektive – institutionell stabilisieren kann. Die schweizerische Politikwissenschaft, die schweizerische Politik und die an der schweizerischen Politik Interessierten brauchen solche Informationen.
     

    Literatur
    1) FARAGO, Peter (1995). «Wahlforschung in der Schweiz: Der Neubeginn», in Schweizerische Zeitschrift für Politische Wissenschaft, Vol 1: S. 121 ff.
    2) FARAGO, Peter (1996). Wahlen 95: Zusammensetzung und politische Orientierungen der Wählerschaft an den eidgenössischen Wahlen 1995. «Swiss electoral studies» (selects) Band 1. Bern/Genf/Zürich.
    3) Vgl. dazu auch: BUNDESAMT FÜR STATISTIK (1997), Nationalratswahlen 1995: Übersicht und Analyse. Anhang: Ständeratswahlen 1994/95: Bern (v.a. S. 48-64).
    4) SCHLOETH, DANIEL (1998). Vor die Wahl gestellt. Erklärungen des Wahlverhaltens bei den Eidgenössischen Wahlen 1995. «Swiss electoral studies» (selects) Band 3. Bern/Stuttgart/Wien: Haupt.
    5) Die Daten dieses gesamten Projekts finden sich bei SIDOS und sind allen Interessierten für weitere Analysen zugänglich.
    6) SCHWEIZERISCHE BUNDESKANZLEI (1996): Leitfaden zur sprachlichen Gleichbehandlung im Deutschen: Bern.
     

    Werner Seitz,
    Bundesamt für Statistik,
    Neuchâtel