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    Werner Seitz*

    «Nationalratswahlen 1999: In Bern kein politischer Erdrutsch in Sicht»,
    in Seeländer Rosen, 7/1999, Nr. 2
    (Mitteilungsblatt der SP Amt Aarberg, Büren, Erlach und Nidau).



    Massive Gewinne für die SVP – starke Verluste für die CVP – leichte Gewinne für die SP – Verluste für die meisten anderen Parteien. So lauten, etwas vereinfacht, die Prognosen der meisten Meinungsumfragen für die Nationalratswahlen 1999. Sind diese Ergebnisse auch für den Kanton Bern zu erwarten?

    Ein Blick auf die Grossrats- und Nationalratswahlen zwischen 1990 und 1998 zeigt, dass es im Kanton Bern zwei grosse, relativ stabile Blöcke gibt: den rotgrünen und den bürgerlich-rechten Block (vgl. Tabelle 1). SP-Grüne erhielten bei den vergangenen fünf Wahlen jeweils rund einen Drittel aller Stimmen, die Bürgerlichen zusammen mit den Rechtsparteien knapp 60%.

    Tabelle 1 : Kanton Bern: Parteistärken bei den Nationalrats- und Grossratswahlen  seit 1990

    Holt die SP weiter auf?
    Bewegung gibt es allerdings innerhalb dieser beiden Blöcke. Seit den neunziger Jahren verlieren die Grünen Stimmen, während die SP stärker wird. Damit wird auch in Bern der Prozess der achtziger Jahre teilweise wieder rückgängig gemacht, bei dem die SP massiv eingebrochen war – von 30,5% (1979) auf 22,3% (1987) – und die Grünen in ähnlichem Ausmass Stimmen gewonnen hatten, von 3,0% (1979) auf 11,8% (1987). Für die kommenden Nationalratswahlen interessiert nun, ob der Aufhol-Prozess der SP in Bern weitergeht oder ob die Grünen mit ihrer Einheitsliste die Stimmenverluste stoppen oder gar wieder etwas an Stimmen zulegen können. Immerhin vermochte die GFL im vergangenen Jahr den Grossteil des LdU der Stadt Bern bei sich aufzunehmen.

    Bricht die Freiheitspartei ein?
    Eine Bewegung von den Kleinen zu den Grossen kann auf nationaler Ebene auch im bürgerlich–rechten Lager festgestellt werden, wobei bei den Rechtsparteien zwischen FP und EDU unterschieden werden muss. Die FP gehört in den vergangenen vier Jahren durchwegs zu den Wahl-Verliererinnen, wogegen die Zahl der Wählenden bei der EDU seit Jahren leicht, aber stetig wächst.
    Ob die FP im Kanton Bern bei den Nationalratswahlen '99 gleich von der Bildfläche verschwinden wird, wie in anderen Kantonen plausibel angenommen werden kann, ist für Bern kaum anzunehmen, ist doch hier bekanntlich das Verhältnis zwischen SVP und den Rechtsparteien ein besonderes: In Bern distanziert sich die SVP vom pointierten Blocher-Rechtskurs (was nicht heisst, dass die SVP nicht eine rechte bürgerliche Partei ist), womit es ihr nicht so leicht fallen dürfte, der FP das Wasser abzugraben.

    Keine markanten Veränderungen bei den Grossratswahlen 1998
    Analysieren wir die Entwicklungen bei den Grossratswahlen 1998 – sie stellen die aktuellsten Wahlergebnisse im Kanton Bern dar und können durchaus als «Trendmelder» für die Nationalratswahlen 1999 betrachtet werden – so sind keine markanten Veränderungen festzustellen: Die beiden «grossen» Gewinnerinnen sind die SP (+2,3 Prozentpunkte) und die EDU (+1,3), die beiden «grossen» Verliererinnen die FP (–1,7 Prozentpunkte) und die GFL (–1,4). Die Gewinne und Verluste der übrigen Parteien bewegen sich unter einem Prozentpunkt.

    20 Listen und 6 Bündnisse
    Für eine Einschätzung der Ausgangslage für die Nationalratswahlen im Kanton Bern kommt der Analyse der eingereichten Wahllisten und der abgeschlossenen Listenverbindungen besondere Bedeutung zu. Um die 27 Sitze, die dem Kanton Bern im Nationalrat zustehen, bewerben sich auf 20 Listen 154 Kandidatinnen und 289 Kandidaten. Von den 20 Listen versucht nur gerade die kleine Humanistische Partei ihr Glück im Alleingang. Die übrigen 19 Listen wurden zur optimalen Verwertung der sogenannten Reststimmen zu folgenden sechs Bündnissen (Listenverbindungen) zusammengeschlossen.

      (1) FDP–SVP (6 Listen)
      (2) SP und Grüne (3 Listen)
      (3) FP und SD (2 Listen)
      (4) EDU und «Neue Liste» (3 Listen)
      (5) CVP–LdU–ARP (3 Listen)
      (6) EVP–EVPplus (2 Listen).


    Am meisten Mandate im Nationalrat hat die bürgerliche Listenverbindung zu verteidigen (FDP: 4; SVP: 8), am zweitmeisten die rotgrüne Listenverbindung (SP: 8; Grüne: 2). Getrennt versuchen die Rechtsparteien ihre 3 Mandate zu halten: Die SD (1 bisheriges Mandat) zusammen mit der FP (1), die EDU (1) mit der «Neuen Liste», jener dilettantisch aufgezogenen «Blocher-SVP»-Liste, die nun nicht einmal unter diesem Namen kandidieren darf. Eine «Kraut und Rüben»-Verbindung, deren einziger gemeinsamer Nenner wohl die Hoffnung auf das Halten des ehemaligen CVP-Mandates sein dürfte, ist schliesslich die Verbindung «CVP–LdU–ARP».

    Tabelle 2:

    Intakte Chancen für «FDP–SVP» und «SP–Grüne»
    Tabelle 2 zeigt die Erfolgschancen der einzelnen Listenverbindungen auf. Das Bündnis «FDP–SVP» hat bei den Grossratswahlen nur wenige Stimmen verloren, sodass die 12 Mandate kaum gefährdet sind, zumal die 41,7% Parteienstärke fast für 12 Vollmandate ausreichen. Das Bündnis «SP–Grüne» muss sich etwas mehr anstrengen, um seine 10 Mandate zu sichern; der Stimmenzuwachs von 0,8 Prozentpunkten bei den Grossratswahlen weist jedoch darauf hin, dass dies möglich sein sollte. Interessieren dürfte auch, ob und wie stark es den rotgrünen Parteien gelingt, ehemalige Wählende der «Alliance Jurasienne», die sich diesmal nicht mit einer eigenen Liste an den Nationalratswahlen beteiligt, und vor allem des früheren LdU, dessen ExponentInnen in der Stadt Bern in die GFL übergetreten sind, zu gewinnen.
    Komfortabel ist die Situation für die EDU und die EVP: Sie beide haben 1995 je 1 Vollmandat erhalten und bei den letzten Grossratswahlen noch an Stimmen zugelegt.

    Offene Fragen bei den Rechtsparteien und bei CVP / LdU
    Weniger klar sind dagegen die Chancen der beiden Verbindungen «FP–SD» (2 bisherige Mandate) und «CVP–LdU–ARP» (1 Mandat). Arithmetisch gesehen sollten aufgrund der Parteienstärke bei den Nationalratswahlen 1995 beide Bündnisse ihre Mandate halten können, auch wenn beide Formationen bei den Grossratswahlen eine sinkende Tendenz aufwiesen.
    Beim Bündnis «FP–SD» stellt sich etwa die Frage, ob sich die SD auch ohne ihr langjähriges Aushängeschild Markus Ruf behauptet, und ob sich die FP vom nationalen Erosionsprozess, in dem sich die FPS befindet, heraushalten kann.
    In der Listenverbindung «CVP–LdU–ARP» haben sich zwei Verlierer getroffen: Die CVP muss ohne ihren bisherigen Bündnispartner, die separatistische «Alliance Jurasienne», in die Wahlen steigen, und die LdU hat ihre wichtigsten ExponentInnen in der Stadt Bern an die GFL verloren. Offen ist auch, ob der neue Spitzenkandidat, der ex-SD-Mann Markus Ruf, der LdU zum Wiedereinzug in den Nationalrat verhilft, oder ob das Projekt LdU endgültig Schiffbruch erleidet.

    Und die Frauen?
    Die Frauen im Kanton Bern hatten lange Zeit bei den Nationalratswahlen nichts zu lachen (siehe Tabelle 3): Leistete es sich doch der grosse Kanton Bern bei den Nationalratswahlen 1971 und 1975, keine Frau – und dafür 31 Männer – in die grosse Kammer zu schicken. 1979 wurde die erste Frau gewählt (Geneviève Aubry, FDP). 1983 waren es 3 Frauen und – erst – 1987 schafften die ersten Frauen bei der SP und der SVP den Sprung in die grosse Kammer. Nachdem 1991 7 Frauen und 22 Männer gewählt wurden, gab es 1995 bereits einen Rückschlag für die Frauen: Der Frauenanteil in der Berner Delegation fiel auf 18,5% (5 Frauen und 22 Männer).

    Frauenlisten bei SP, FDP und SVP
    Gleich drei Parteien treten mit Frauen- und Männerlisten an: SP, FDP und SVP. Pionierinnen in Sachen Frauenliste sind im Kanton Bern jedoch die SP-Frauen: Sie gewannen 1987 dank der Frauenliste ihre ersten beiden Mandate, welche sie 1991 halten und 1995 auf 3 ausbauen konnten. Ob die SP-Frauenliste heute noch nötig ist, kann nicht zwingend nachgewiesen werden. Wenn die Frauenliste jedoch zum Markenzeichen der SP-Frauen geworden ist, und wenn sie auch gegen innen noch besonders zu mobilisieren vermag, ist sie als Instrument sicher sinnvoll.

    Wohl nicht das Ei der Kolumba stellen die Frauenlisten der FDP und besonders der SVP dar: Bei der FDP eher als Notlösung anstelle der (personalpolitisch als problematisch erachteten) regionalen Listen beschlossen, dürften die SVP-Verantwortlichen einen analytischen Fehlschluss gezogen haben, als sie die Frauenliste ins Spiel brachten. Einfach das Wahlergebnis der SVP-Frauenliste des Wahlkreises der Agglomeration Bern-Land bei den letzten Grossratswahlen auf den gesamten (doch eher ländlichen) Kanton hochzurechnen, ist schon ziemlich wagemutig um nicht zu sagen: unseriös. Noch unverständlicher ist dieser Entscheid, weil mit dieser Frauenliste, die durchaus ein Mandat erringen dürfte,  verhindert wird, dass Frauen im Verlaufe der Periode 1999–2003 für zurücktretende Männer nachrutschen können – und Rücktritte sind zu erwarten. Diese Chance ist nun wegen der SVP-Frauenliste ausschliesslich den Männern vorbehalten.
     
     
    * Werner Seitz, 
    1954, Dr. phil., Politologe, leitet als wissenschaftlicher Adjunkt am Bundesamt für Statistik den Bereich «Wahlen und Abstimmungen». Seitz gehört keiner Partei an.