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    Werner Seitz

    Rezension:
    Gruner, Erich / Hertig, Hans Peter, Der Stimmbürger und die «neue» Politik. Wie reagiert die Politik auf die Beschleunigung der Zeitgeschichte?, Verlag Paul Haupt, Bern und Stuttgart 1983, 412 Seiten,
    in Widerspruch, Zeitschrift zur sozialistischen Politik, Heft 8, 1984, S. 130–132.


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    Die Schrift von Erich Gruner und Hans Peter Hertig über die Krise des politischen Systems und die Alternativbewegungen liegt nun bereits ein gutes Jahr vor und hat bei den Bürgerlichen einigen Staub aufgewirbelt. Der Sekretär der Berner SVP, Hans Häusler, meinte beispielsweise: «Wenn man das Buch liest, so glaubt man, wir lebten in einem Saustall» und eine geharnischte SVP-Schweiz liess es sich genauso wenig nehmen wie das Fernsehen und die Presse, die Autoren zu Streitgesprächen und Stellungnahmen einzuladen. Demgegenüber reagierte die Linke mit derselben Lauheit mit der sie schon Hanspeter Kriesis «Politische Aktivierung in der Schweiz 1945–1978», welches ebenfalls im Rahmen des nationalen Forschungsprogramms «Entscheidungsvorgänge in der schweizerischen Demokratie» erschienen ist, zur Kenntnis genommen hatte. Dabei wäre es doch gerade heute, wo auch die Linksparteien von der «grünen Welle» erfasst werden, von Nutzen, sich mit theoretischen Einschätzungen über diese Bewegungen auseinander zu setzen.

    Im ersten Teil des Buches untersucht der Politologe Hans Peter Hertig die Befähigung des/r Stimmbürgers/in zur materiellen Problemlösung bei eidgenössischen Abstimmungen (materielle Problemlösungskapazität, abgekürzt MPLK) sowie die verschiedenen Elemente der politischen Meinungsbildung. Er geht dabei von den Analysen von 41 eidgenössischen Abstimmungen zwischen März 1977 und Dezember 1980 aus, welche das Forschungszentrum für schweizerische Politik an der Universität Bern zusammen mit der schweizerischen Gesellschaft für praktische Sozialforschung jeweils nach den Abstimmungen durchführt (die sog. Vox–Analysen) und gelangt zum erschreckenden Fazit, dass nur 1/6 der Stimmenden das Wesentliche des Inhalts von Abstimmungsvorlagen umschreiben und den Entscheid begründen können und dass gar 1/3 der Stimmenden weder die Vorlage zu skizzieren noch den Entscheid zu begründen vermögen (S. 56). Diese geringen Kenntnisse hatten denn auch beispielsweise im Februar 1979 zur Ablehnung der Atominitiative geführt, obschon jede/r siebte Nein-Stimmende ihr/sein Nein als Nein zu AKWs verstanden hatte. Hertig fragt anhand der Vox-Analysen nach den Merkmalen der Stimmenden und findet die Annahme bestätigt, dass das Problemlösungsvermögen tendenziell mit Bildung und wirtschaftlicher Stellung steigt. Überraschender dürfte die Feststellung sein, dass die MPLK mit zunehmendem Alter sinkt (S. 67 ff.): Über die höchste Problemlösungskapazität verfügen die 20–24jährigen (sicher ein gewichtiges Argument für die Senkung des Stimm- und Wahlrechtsalters auf 18!). Bezüglich der Parteiensympathie der Stimmenden finden die Kategorien Bildung, wirtschaftliche Stellung, Alter ebenfalls ihre Bestätigung: Die Anhänger der POCH, aber auch noch jene von SP, PdA und FDP haben eine überdurchschnittliche MPLK, während jene von NA, EVP und CVP unterdurchschnittlich abschneiden.
    Ausgehend von der offensichtlichen materiellen Überforderung der Stimmbürger/innen – für die Autoren übrigens eines der wichtigsten Motive der Stimmabstinenz – wendet sich Hertig der Meinungsbildung vor der Abstimmung zu. Behörden und Parteien, die traditionellen Transmissionsriemen der Vermittlung politischer Inhalte, erweisen sich für die Meinungsbildung als wenig bedeutsam. Angesichts des festgestellten Faktums, dass im Abstimmungskampf weniger Grundsatzartikel und Diskussionen, sondern vielmehr Slogans zur Meinungsbildung beitragen, stellt Hertig die Frage, ob denn Abstimmungen käuflich seien. Dass er diese mit «im Prinzip Ja» beantwortet, hat manchen Bürgerlichen in Rage versetzt. Auch mir erscheint diese These, wenn auch vor einem andern Hintergrund, etwas reisserisch; sie verbleibt letztlich auf der Ebene eines Zusammenhangs von publizierter Inseratenfläche und Abstimmungsausgang und vernachlässigt die viel subtileren Faktoren der Ideologie-Produktion.

    Das abschliessende Kapitel des ersten Teils – von Andreas Grossen verfasst – untersucht die Partizipation an den eidgenössischen Abstimmungen von 1977–1980 und bestätigt, was den meisten irgendwie schon bekannt ist: Unterrepräsentiert an der Urne sind jene, welche weniger stark in traditionelle Sozialisationsstrukturen integriert sind (Geschiedene, Wohnortwechsler, Stadtbewohner), Leute mit geringerer Schulbildung und in tieferer sozialer Stellung, ferner die politische Linke (innerhalb der Linken wiederum ist die SP über-, POCH, PdA, SAP unterrepräsentiert) und vor allem die 20–29jährigen (obschon gerade letztere die höchste MPLK aufweisen!).

    Erich Gruner, Professor fur Sozialgeschichte und Soziologie der schweizerischen Politik an der Universität Bern und Verfasser zahlreicher politologischer Grundlagenwerke, beleuchtet im zweiten Teil des Buches den sozialgeschichtlichen Hintergrund der politischen Aktivität und Verweigerung. Er geht dabei von drei verschiedenen Bewegungsrhythmen der Geschichte aus (Tiefenströmungen / longue durée, zyklische Strömungen / temps cyclique, Ereignisabläufe / temps brefs) und stützt sich auf die These des französischen Historikers Pierre Chaunu, nach welcher beim Zusammenfallen von Tiefen- und zyklischen Strömungen konfliktträchtige Konstellationen entstehen, die einschneidende Verhaltensänderungen nach sich ziehen. Ein Zeichen einer solchen Veränderung der heutigen Politik ist für Gruner die «Alternativszene» (darunter sind u.a. zu verstehen: Umweltschutz-, Friedens-, Frauen-, Anti-AKW-Bewegung), welche auf etwa doppelt soviele Anhänger wie die Parteien zählen kann (S. 297 ff.). Vordergründig scheinen diese alternativen Gruppen unpolitisch zu sein und zusammenhanglosen Kleinkonflikten nachzugehen, im Grunde aber manifestieren sie ein neues Bewusstsein weltweiter Betroffenheit, welches dem kurzfristigen Denken der Parteipolitiker in Legislaturperioden einiges vorhabe. Gruner relativiert zwar die «neue» Qualität der Alternativen mit dem Hinweis, dass solche unkonventionellen Bewegungen schon mehrmals in der Geschichte aufgetaucht seien (er spricht denn auch immer von «neuer» Politik); er will damit aber die Bedeutung der «neuen» Politik keineswegs herabmindern – für ihn sind die neuen sozialen Bewegungen bereits zu einem dauernden Bestandteil der Politik geworden. Insofern die Alternativen nicht mehr wie die «volksfremden Parteien» alten Leitbildern (dem klassenkämpferischen Herrschaftsparadigma oder dem wachstumsfreundlichen Verteilungsparadigma) frönen, sondern das Paradigma der neuen Lebensqualität auf ihre Fahnen geschrieben haben, nehmen sie Sichtweisen vorweg, um die sich auch die Parteien nicht mehr länger drücken können. Dass die Parteien aber auf die Jugendbewegung, welche die Verhaltensänderung am offensten manifestiert hatte, nur aggressiv, ignorant oder überheblich reagiert haben, provoziert Gruner zu einem kraftvollen Rundschlag gegen diese Allerweltsparteien, die kein taugliches Empfangsgerät mehr besässen und auch nichts Vernünftiges mehr in die Zukunft mehr projizieren könnten (S. 305 ff.).
    Bei der Analyse der Wertkrise der Gesellschaft, deren Warnzeichen eben auch die Alternativszene ist, stellt Gruner die Erschütterung zweier langfristig angelegter Fundamente der Politik fest: der Familie und der Nationalstaaten. In extenso schildert er die Transformation der Familie von der Produktions- zur Konsumgemeinschaft, welche begleitet war von der Auslagerung wesentlicher Funktionen aus der Familie. Diese Veränderung der Sozialisierungsfunktion ist für den Autor eine Hauptursache für das «politische Desinteresse» der Jugend. Dass dabei irgendwie das veränderte Frauen- und Eheverständnis für den «Schiffbruch» der Jugend bei der Persönlichkeitsentwicklung verantwortlich gemacht wird (S. 221 ff.), dürfte nicht unwidersprochen bleiben, ebenso wie die Ablehnung der Gesamtschule (S. 245) oder die Kriminalisierung des Terminus «strukturelle Gewalt» (S. 267).
    Am Schluss seines Essays formuliert Erich Gruner noch einmal offen seine Position: Es geht ihm ums Überleben von Familie und Staat; mit dieser Intention analysiert er die Alternativbewegung, welche er als Warnzeichen einer Vertrauenskrise versteht. Unabhängig davon, ob Gruners (und auch Hertigs) reformerische Standpunkte geteilt werden, lohnt sich die Lektüre dieses Buches: Es überzeugt mit einer Fülle von Daten und Informationen über die Alternativbewegung und die Krise des politischen Systems; die eigenwilligen Einschätzungen der Autoren bezüglich der Alternativbewegung sind weder arrogant noch blind anbiedernd und vermögen – wo ihnen nicht zuzustimmen ist – fruchtbare Widersprüche zu provozieren.
     
     

    Werner Seitz: 1954, Studium der Philosophie, Schweizergeschichte und Staatsrecht, Assistent an der Universität Bern, Mitglied der POCH.