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 Werner Seitz*
«Nur ein Tor kann sagen: 'Die Schweiz ist eine Armee'.
Die militärpolitischen Volksinitiativen und Referenden von 1848 bis 1984 und die regionalpolitische Analyse ihrer Ergebnisse»,
in Brodmann, Roman / Gross, Andreas / Spescha, Marc (Hg.), Unterwegs zu einer Schweiz ohne Armee. Der freie Gang aus der Festung, Basel 1986, S. 48–73.

 

==> Résumé en français

Anlässlich der Gründung der GSoA-Regionalgruppe St. Gallen verabschiedete die FDP des Kantons St. Gallen eine Stellungnahme, in der sie gegen die ArmeeabschafferInnen argumentierte, die Schweiz sei eine Armee; eine FDP-Nationalrätin wiederholte kürzlich dieses Bonmot in ihren Betrachtungen zum 1. August. Die Meinung, dass die Schweiz eine Armee sei, wird implizit auch von jenen Linken geteilt, die ein Engagement für die Armeeabschaffungs-Initiative als «politischen Selbstmord» abqualifizieren. Beiden Positionen ist letztlich der gleiche totalitäre Mythos einer Schweiz gemeinsam, die mit dem Morgenstern in der Hand geboren worden sei und die sich bis heute dank ihrer Armee Freiheit und Unabhängigkeit erhalten habe; der Unterschied liegt einzig darin, dass die Bürgerlichen diesen Mythos verbreiten, während Linke davon ausgehen, dass dieser Mythos im Volk unverrückbar verankert sei.

Im folgenden Artikel möchte ich, anhand der Ergebnisse von Volksabstimmungen, welche das Militär betrafen, aufzeigen, dass die Armee der Bevölkerung keineswegs so heilig ist, wie es die Bürgerlichen gerne hätten: Im 19. Jahrhundert schätzten die katholischen und welschen Kantone ihre kantonale Eigenständigkeit höher ein als die Schweizer Armee, und sie brachten eine Grosszahl militärpolitischer Vorlagen zu Fall, um die Jahrhundertwende standen den Sozialdemokraten ihre revolutionären Ideen näher als die Schweizer Armee, und in der Folgezeit erfuhren armeekritische Forderungen von ausserparlamentarischen Gruppen vor allem in der romanischen Schweiz beträchtliche Unterstützung. Noch etwas erscheint mir bezüglich der militärpolitischen Vorlagen erwähnenswert: Radikalere Forderungen schneiden in Volksabstimmungen nicht a priori schlechter ab als gemässigtere (Gegen-)Varianten: Die Initiative für ein Atomwaffenverbot erhielt zwar 3% Stimmen weniger, aber absolut 13'000 Stimmen mehr als die sozialdemokratische Gegeninitiative, und die kleinmütige «Münchensteiner-Initiative» vereinigte 2% Stimmen mehr, absolut jedoch 238'000 Ja-Stimmen weniger auf sich als die «Tatbeweis-Initiative».
 

Überblick über die militärpolitischen Abstimmungen von 1848 bis 1984
Die Auseinandersetzungen über militärpolitische Vorlagen im 19. und frühen 20. Jahrhundert betrafen Fragen der Militärorganisation und der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen und waren so vor allem vom Gegensatz zwischen Föderalismus und Zentralismus bestimmt. Die Bundesverfassung von 1848 hatte das Armeewesen – im Gegensatz zu wirtschaftspolitischen Angelegenheiten – nur geringfügig vereinheitlicht; das Bundesheer blieb zur Hauptsache aus Kontingenten der Kantone zusammengesetzt, und Organisation, Verwaltung und Leitung waren uneinheitlich. Der nationale Zusammenschluss der Kleinstaaten Italiens und Deutschlands stärkte in der Schweiz jene Kreise, welche befürchteten, die Schweiz könne nun – eingekreist von vier Grossmächten – leicht zu einem Kriegsschauplatz werden, und die deshalb eine zeitgemässe Umstrukturierung und Zentralisierung der Armee forderten. Der Entwurf zur Totalrevision der Bundesverfassung trug diesem Begehren Rechnung und wurde den Stimmbürgern 1872 mit dem Schlagwort «ein Recht, eine Armee» (Vereinheitlichung des Rechts, Zentralisierung der Armee) unterbreitet. Die Vorlage wurde jedoch als zu zentralistisch abgelehnt. Zwei Jahre später hingegen stimmte der Souverän einer gemässigteren Verfassungsrevision zu. Unter anderem wurde damit die (unentgeltliche) Bewaffnung, der Militärunterricht und der Militärpflichtersatz zur Bundessache erklärt; andere Kompetenzen, wie beispielsweise die Ernennung und Beförderung von Offizieren, blieben jedoch weiterhin bei den Kantonen. In der Folge ergriffen Konservative und Föderalisten zweimal erfolgreich das Referendum gegen die Einführung eines Bundes-Militärpflichtersatzes (1876 und 1877); erst 1878 konnte der bundesrätliche Vorschlag in Kraft treten. 17 Jahre später wehrten sich die Föderalisten und Konservativen noch einmal mit Erfolg gegen die Zentralisierungsbestrebungen des Bundes: Die Westschweiz, welche hinter den neuen Militärartikeln preussischen Ungeist witterte, bodigte den vorgeschlagenen Verfassungsartikel im Bündnis mit der Ost- und der Innerschweiz. Die Zustimmung des Souveräns zur Neuauflage der Zentralisierung des Militärs im Jahr 1907 zeigte jedoch an, dass der Konflikt zwischen Zentralisten und Föderalisten allmählich sekundär wurde (seit 1891 sass mit dem Luzerner Josef Zemp auch der erste Konservative im liberalen Bundesrat) und vom Gegensatz zwischen Arbeiterbewegung und Bürgertum abgelöst wurde; das Referendum gegen die Militärvorlage wurde denn, neben den Föderalisten, auch von der SP ergriffen, weil für sie die conditio sine qua non – das Verbot von Truppeneinsätzen bei Streiks – nicht erfüllt war. Dieser neue gesellschaftlich dominante Konflikt verstärkte sich in der Armeefrage, als der ausserordentliche SP-Parteitag in Bern 1917 den Kientaler-Beschlüssen zustimmte und sich mit grosser Mehrheit gegen Landesverteidigung und Militarismus aussprach.

Ausdruck des antimilitaristischen Schwenkers der SP war bereits die 1916 eingereichte Initiative betreffend «die Aufhebung der Militärjustiz»; über 13% der Stimmberechtigten, das waren knapp 120'000, unterzeichneten dieses Begehren – fast 2/5 der Unterschriften stammten aus den Kantonen Bern und Zürich. Die Initiative verlangte die Abschaffung der Militärjustiz (nicht aber des Militärstrafgesetzes) sowie einige Änderungen im geltenden Militärdisziplinarrecht, wie z.B. die Herabsetzung des Höchstmasses der Arreststrafe auf 10 Tage. Ihre Stossrichtung war eher armeekritisch als antimilitaristisch und widerspiegelte einen Kompromiss zwischen dem radikal-antimilitaristischen Flügel und den gemässigten Kreisen, die «Realpolitik» betreiben wollten, wie beispielsweise dem gestandenen Arbeiterführer Hermann Greulich, der zum Antimilitarismus bemerkte: «Mit der Ablehnung der Landesverteidigung gibt man dem Proletariat statt Brot und Freiheit – nur hohle, leere Worte». Mit der Initiative für die Aufhebung der Militärjustiz ersuchte die SP ferner, den weitverbreiteten Unmut der Bevölkerung über das arrogante Auftreten einiger Militärs und die mit der Verkündung des Kriegsrechts erfolgte Ausdehnung der militärischen Gerichtsbarkeit auf Bereiche des Zivillebens politisch aufzufangen. Die Volksinitiative wurde 1921 mit 393'000 gegen 199'000 (von den Kantonen mit 16 6/2 : 3) verworfen.

Mit der Gründung der KPS (1921), die einen beträchtlichen Teil der linken Antimilitaristlnnen bei sich aufnahm, setzten sich in der SP die «Realpolitiker», die einen Konsens mit dem Bürgertum anstrebten, immer mehr durch: Am Luzerner Parteitag 1935 revidierte die SP ihr Parteiprogramm und bekannte sich – auch angesichts der faschistischen Bedrohung – zur Landesverteidigung. Von nun an lag es vor allem an ausserparlamentarischen Bewegungen oder Komitees, friedenspolitische Aktivitäten zu lancieren, wenn sie auch meistens mit der Unterstützung von der politischen Linken, vor allem den Kommunistlnnen, rechnen konnten. Ein erster Vorstoss dieser neuen Qualität war die Volksinitiative «gegen die private Rüstungsindustrie», welche 1936 von der «Schweizerischen Europa-Union» eingereicht wurde. Mit der Forderung nach einem Rüstungsmonopol des Bundes wollten die Initianten den Missstand, dass über die Hälfte der schweizerischen Rüstungsindustrie in ausländischem Besitz war, beheben. Der eigentliche Inhalt des Begehrens kann als nationial-pazifistisch bezeichnet  werden: Nicht gegen die Armee oder die Rüstungsproduktion an sich, sondern gegen die «Internationale der Rüstungsproduktion», d.h. gegen die Produktion für den internationalen Waffenmarkt richtete sich die Initiative. Im weiteren sollte die Ein-, Aus- und Durchfuhr von Kriegsgeräten von der Bewilligung des Bundesrates abhängig gemacht werden. Der Bundesrat teilte in seiner Botschaft vordergründig das Unbehagen der Initianten und stellte der Initiative einen eigenen Entwurf gegenüber, der mit ihr in weiten Teilen übereinstimmte, ausgenommen in dem entscheidenden Passus, dass Waffen nur «zum Zwecke der Landesverteidigung» produziert werden dürfen. Diese Einschränkung war für den Bundesrat «unannehmbar aus Gründen der Landesverteidigung selbst, aber auch aus volkswirtschaftlichen Überlegungen». Die Europa-Union schien trotzdem mit dem bundesrätlichen Gegenentwurf zufriedengestellt und engagierte sich im Abstimmungskampf – im Sinne vom Spatzen in der Hand – für den Gegenvorschlag, der klar angenommen wurde (394'000 : 149'000); die Initiative hingegen vereinigte mickrige 66'000 Ja- gegen 418'000 Nein-Stimmen auf sich.

Die Abstimmungsvorlagen, welche in der Zeit um den 2. Weltkrieg dem Souverän unterbreitet wurden, strebten eine Verstärkung der Armee an: In zwei Abstimmungen hatten die Stimmbürger über eine vermehrte Einbindung der Armee in die Bevölkerung zu befinden, drei weitere Vorlagen betrafen die Genehmigung von Krediten zum Ausbau der Armee. Zu den beiden erstgenannten Vorlagen nahm der Souverän 1935 und 1940 wie folgt Stellung: Der einen, welche eine Neuordnung der militärischen Ausbildung (u.a. auch eine Verlängerung der RS) vorschlug, stimmten 507'000 Stimmbürger (gegen 430'000) zu, der anderen aber, die den obligatorischen militärischen Unterricht für die männliche Jugend vom 16. bis 20. Altersjahr einführen wollte, blieb 1940 ein Erfolg versagt; sie wurde mit 435'000 gegen 345'000 Stimmen abgelehnt. Ebenfalls nur teilweise erfolgreich waren Kreditbegehren für den Ausbau der Armee kurz vor und nach dem 2. Weltkrieg. 1939 genehmigte der Souverän mit 446'000 gegen 200'000 Stimmen ausserordentliche Kredite in der Höhe von 330 Mio. Fr. für den Ausbau der Landesverteidigung (140 Mio. Fr. sollten dabei mit einer auf dem Detailhandel erhobenen Ausgleichssteuer – einer Art WUST – getilgt werden); namentlich auch die SP versprach sich von diesen Investitionen die Schaffung von zusätzlichen Arbeitsplätzen. 1951 genehmigten die eidgenössischen Räte das «Rüstungsprogramm 1951 – 1956» in der Höhe von 1464 Mio. Fr. Bezüglich der Finanzierung dieses Kredits schieden sich die Geister: Bundesrat und bürgerliche Parlamentsmehrheit wollten während dreier Jahre die Wehrsteuer und die Warenumsatzsteuer (v.a. auf Getränken) mit einem «Rüstungszuschlag» belegen, während die Sozialdemokraten eine Vermögensabgabe in Form eines «Friedensopfers» erheben wollten. Nachdem letzterer Vorschlag im Parlament keine Mehrheit finden konnte, lancierte die SP eine Volksinitiative für eine Vermögensabgabe für die Jahre 1952 bis 1954; ihrer Meinung nach hätten die beschlossenen  Rüstungsausgaben in absehbarer Zeit gedeckt werden müssen, da ein Rechnungsungleichgewicht des Bundes leicht eine Beschränkung der Sozialausgaben zur Folge haben könnte. Das Parlament hingegen wollte «Vermögen und Sparsinn des Volkes nicht übermässig beanspruchen» und hielt am «Rüstungszuschlag» auf Steuern fest. In der Volksabstimmung von 1952 wurden hingegen beide Vorschläge abgelehnt: Der Bundesbeschluss des Parlamentes betreffend die «Deckung der Rüstungsausgaben» vereinigte 256'000 Ja- und 354'000 Nein-Stimmen auf sich, die SP-lnitiative «zur Rüstungsfinanzierung und zum Schutz der sozialen Errungenschaften» unterlag mit 422'000 zu 328'000 Stimmen.

Eine erste Opposition gegen die Militärpolitik der Aufrüstung («Rüstungsprogramm  1951 – 1956»), welche ja auch von der SP voll mitgetragen wurde, formierte sich um die beiden «Chevallier-Initiativen». Der Satiriker Samuel Chevallier und der Journalist L. Plomb lancierten 1954 eine Volksinitiative «für eine Herabsetzung der Militärausgaben (Volksinitiative für eine Rüstungspause)», die eine 50%ige Herabsetzung der Rüstungsausgaben für 1955 (oder spätestens 1956) verlangte; die dadurch frei werdenden finanzielIen Mittel sollten hälftig in der Schweiz für soziale Aufgaben und in den benachbarten Ländern für den Wiederaufbau kriegsverwüsteter Gebiete verwendet werden. Knapp 80'000 Stimmbürger unterzeichneten das Begehren: 70% der Unterschriften stammten aus der Westschweiz, der Kanton Bern steuerte 15% bei; unterstützt wurde die Initiative von der PdA, einzelnen SP-Sektionen – obwohl sich das ZK der SP einstimmig gegen das Volksbegehren ausgesprochen hatte – und Teilen der Gewerkschaften. Nicht unbekannt tönt in diesem Zusammenhang auch die geäusserte Befürchtung von Jules Humbert-Droz, dem damaligen SP-Zentralsekretär und Präsidenten des Schweizerischen Friedensrates, dass diese Initiative einen negativen Volksentscheid provozieren würde, der den Aufrüstungsbestrebungen Auftrieb gäbe. Ein Volksentscheid wurde jedoch von den eidgenössischen Räten verhindert, indem sie – der Nationalrat gar nur mit Stichentscheid des Präsidenten – die Initiative wegen Formfehler für ungültig erklärten. Ein zweiter Anlauf, diesmal formal besser abgestützt, erfolgte 1956. Das Anliegen wurde in zwei Initiativen aufgeteilt: Die eine verlangte eine Begrenzung der Militärausgaben auf 500 Mio Fr. (höhere Beträge hätten einer Volksabstimmung zu unterstehen), die andere wollte in der Verfassung verankern, dass eine Summe von mindestens 10% der Rüstungsausgaben im sozialen und kulturellen Bereich getätigt werden müsse. Im Dezember wurden die Initiativen mit 84'500 und 68'500 Unterschriften eingereicht, wovon gut die Hälfte in der deutschen Schweiz gesammelt worden waren. Nach den Ungarn-Ereignissen von 1956 jedoch zog das Komitee die beiden Initiativen zurück, weil es sich durch das aufgepeitschte politische Klima und die Unterstützung durch die PdA kompromittiert fühlte.

Drehten sich die Auseinandersetzungen bis 1957 um die Militärausgaben – auf die drei Abstimmungen über den Zivilschutz zwischen 1952 und 1959 gehe ich nicht ein –, beherrschte mit der möglich gewordenen atomaren Bewaffnung der schweizerischen Armee ein neuer Konfliktgegenstand die militär- und friedenspolitische Diskussion. Ausgelöst wurden die Auseinandersetzungen um die atomare Bewaffnung durch entsprechende Forderungen der Zürcher Offiziersgesellschaft und die Äusserung des Bundesrates, dass er sich nicht zum vornherein festlegen lassen und der Armee die «wirksamste Waffe zum Schutze der Neutralität» vorenthalten wolle. Solchen Bekundungen widersetzte sich die «Schweizerische Bewegung gegen die atomare Aufrüstung», welche getragen wurde vom Schweizerischen Friedensrat, von Gegnern der atomaren Testversuche, Leuten der «Chavallier-Initiativen», Teilen der politischen Linken sowie wissenschaftlichen und kirchlichen Kreisen. Die Anti-Atom-Bewegung verlangte nicht nur den Verzicht auf Atomwaffen, sondern meinte auch, die Schweiz als neutraler Staat solle «etwas wagen», solle «der Weltöffentlichkeit zum aktiven Vorbild» werden und sich auf internationaler Ebene für die atomare Abrüstung einsetzen. 1958 lancierte die «Schweizerische Bewegung gegen die atomare Aufrüstung» eine Volksinitiative für ein völliges Verbot der Atomwaffen in der Schweiz. Diesem Vorhaben erwuchs sogleich heftige Kritik seitens der Bürgerlichen und Militärs: es sei «defätistisch», eine «Nachahmung ausländischer politischer Kampagnen» und «erfreue sich der wohlwollenden Unterstützung der grossen Atommacht des Ostens». Die SP reagierte ebenfalls tendenziell ablehnend; SMUV-nahe Sozialdemokraten avancierten gar unter dem Applaus der NZZ zum Stosstrupp gegen die Initiative. Vielbeachtet war in diesem Zusammenhang die «Erklärung der 36» in der SMUV-Zeitung, worin prominente Sozialdemokraten gewerkschaftlicher Ausrichtung mit harten Worten den «gefühlsmässig unterbauten politischen Feldzug» gegen die atomare Bewaffnung kritisierten. Noch bevor die Atomwaffenverbots-Initiative eingereicht wurde, lancierte die SP, die ihr die Unterstützung verweigerte, ein eigenes Volksbegehren, das dem Souverän ein Entscheidungsrecht über die Ausrüstung der schweizerischen Armee mit Atomwaffen einräumen sollte. Diese zweite Initiative war offensichtlich gegen die Atomwaffenverbots-Initiative gerichtet: Sie diente als indirekter Gegenvorschlag zu dieser und verhinderte eine mögliche Unterstützung der ersten Antiatomwaffen-Initiative durch die SP. Die Absicht der SP-Rechten ging auf: Beide Initiativen wurden in der Volksabstimmung etwa im Verhältnis 1 zu 2 abgelehnt.

Nach den beiden Abstimmungen über die atomare Bewaffnung der schweizerischen Armee büsste die Atomwaffenfrage an Aktualität ein – namentlich auch weil der Bundesrat 1963 auf Atomwaffenversuche und 1969 auch auf Atomwaffen vertraglich verzichtete – und die Friedensbewegung wandte sich wieder der Problematik der Waffenexporte zu. In den 50er- und frühen 60er Jahren war es vor allem einzelnen Nationalräten und kleineren Gruppen sowie dem Schweizerischen Friedensrat überlassen, gegen dunkle Waffengeschäfte und Verstösse gegen den Kriegmaterialbeschluss zu protestieren. Der Bührle-Skandal von 1968 – die Firma Bührle-Oerlikon hatte unter falschen Angaben illegal Waffen nach Nigeria, das in einen Bürgerkrieg mit Biafra verwickelt war, geliefert – rüttelte eine grosse Öffentlichkeit auf, und der Schweizerische Friedensrat lancierte 1969 eine Volksinitiative für eine «vermehrte Rüstungskontrolle und ein Waffenausfuhrverbot». Die beiden zentralen Forderungen waren die Errichtung eines Rüstungsmonopols des Bundes und eine Beschränkung der Waffenexporte auf neutrale Staaten. Bundesrat und Parlament reagierten auf die offensichtliche Lücke beim Waffenausfuhrgesetz, die sich beim Bührle-Skandal gezeigt hatte, und auf die 1970 eingereichte Volksinitiative mit einem neuen Ausführungsgesetz (Kriegsmaterialgesetz) zum Artikel 41 der Bundesverfassung, der 1938 als Gegenvorschlag zur Initiative «gegen die private Rüstungsindustrie» von Volk und Ständen angenommen worden war. In seinem Bericht an das Parlament wiederholte der Bundesrat das Argument, das er schon 1937 gegen die Initiative der Europa-Union vorgebracht hatte, die schweizerische Privatwirtschaft sei auf die Waffenausfuhr angewiesen. Diese Argumentation wurde im Abstimmungskampf auch von den bürgerlichen und rechten Parteien sowie dem rechten Flügel der Sozialdemokratie (z.B. Bringolf, Lieberherr) und dem SMUV vertreten. Für die Initiative sprachen sich die Linksparteien, Drittwelt-Organisationen und kirchliche Kreise aus; der Gewerkschaftsbund (SGB) entschied sich für Stimmfreigabe. Ohne ein Vernehmlassungsverfahren durchzuführen und in ungewöhnlich kurzer Zeit, wurde das Volksbegehren 1972 zur Abstimmung gebracht: Die Stimmbürgerlnnen verwarfen es äusserst knapp (mit 593'000 : 585'000), das Ständemehr betrug allerdings 6 2/2 gegen 13 4/2.

In den folgenden Jahren stand die Forderung nach einem Zivildienst im Zentrum der militär- und friedenspolitischen Diskussionen. 1970 hatten Lehrer von Münchenstein, die selber nicht zum engeren Kreis der Friedensbewegung gehörten, eine Volksinitiative für die Schaffung eines Zivildienstes lanciert und damit dieses Anliegen, welches seit der Jahrhundertwende immer wieder in Form von Petitionen und parlamentarischen Vorstössen aufgegriffen wurde, einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Initiative war als allgemeine Anregung formuliert und sah einen Zivildienst für religiös und ethisch motivierte Verweigerer vor; der Militärdienst sollte weiterhin die Regel bleiben. Weite Teile der organisierten Friedensbewegung distanzierten sich von diesem kleinmütigen Volksbegehren, welches 1972 eingereicht wurde. Die eidgenössischen Räte hingegen unterstützten diese Forderung aus Münchenstein und beauftragten den Bundesrat mit der Erstellung eines Berichts betreffend eines Verfassungsartikels über die Einführung eines zivilen Ersatzdienstes. Der Vorschlag des Bundesrates sah einen Zivildienst für Verweigerer aus religiösen und ethischen Gründen vor und legte die Dauer des Zivildienstes auf 18 Monate, das 1 1/2-fache der normalen Militärdienstzeit, fest. Nachdem das Parlament diese Verfassungsänderung gutgeheissen hatte, wurde sie auch dem Souverän unterbreitet: Für die «Münchenstein-Initiative» sprachen sich CVP, EVP, LdU sowie kirchliche und gewerkschaftliche Kreise aus: SP, POCH und PdA vermochten sich für dieses von Bundesrat und Parlament entworfene Projekt nicht zu begeistern und gaben die Stimme frei. Bekämpft wurde die Vorlage von den bürgerlichen und Rechtsparteien einerseits und dem Schweizerischen Friedensrat andererseits, dem die Initiative zu wenig weit ging; er wollte einen Verfassungsartikel, der die freie Wahl zwischen Militär- und Zivildienst vorsah und die Militärpflicht nicht mehr als Normalfall betrachtete. Entsprechend der breiten Gegnerschaft, welche der «Münchensteiner-Initiative» erwachsen war, wurde das Begehren von den Stimmbürgerlnnen mit 886'000 gegen 534'000 (Ständemehr 19 6/2 : 0) verworfen.

Noch bevor die «Münchensteiner-Initiative» zur Abstimmung kam, lancierten Leute aus der organisierten Friedensbewegung eine neue Initiative, welche die Forderungen des Friedensrates aufnahm und die Gewissensprüfung durch den Tatbeweis – das selbstredende Faktum, dass der Zivildienst 1 1/2 Mal länger dauert als die normale Militärdienstzeit – ersetzte. Nach der wuchtigen Verwerfung der ersten Zivildienst-Initiative stiess die schärfer formulierte «Tatbeweis-Initiative» bei Bundesrat und Parlament auf taube Ohren; sie verzichteten sogar auf einen Gegenvorschlag und empfahlen dem Souverän die Ablehnung der Vorlage. Im Abstimmungskampf waren die Fronten diesmal klarer als 1977: Abgelehnt wurde sie von den Bürgerlichen und Rechten, die um die allgemeine Wehrpflicht bangten. Unterstützung erfuhr die Initiative von EVP, LdU und den Linksparteien sowie den Friedensorganisationen. Die StimmbürgerInnen verwarfen die Initiative «für einen echten Zivildienst auf der Grundlage des Tatbeweises» bei einer wesentlich höheren Stimmbeteiligung in ähnlichem Verhältnis wie die «Münchensteiner-Initiative (1'361'000 : 771'000; Ständemehr 19 5/2 : 1 1/2).
 

Analyse einiger militärpolitischer Abstimmungen

Der folgende Versuch, aufgrund einiger Abstimmungsresultate der oben dargestellten militärpolitischen Vorlagen antimilitaristische und radikalpazifistische Widerstandspotentiale in der Schweiz ausfindig zu machen, geht davon aus, dass Regionen von je verschiedenen Werthaltungen geprägt sind. Dieser Sachverhalt kann auch mit dem häufig falsch verwendeten Wort «politische Kultur» umschrieben werden; damit ist – als Ergänzung zur sozioökonomischen Bestimmtheit einer Gesellschaftsformation – ein Konglomerat von Meinungen, Einstellungen, Werthaltungen und Verhaltensdispositionen gemeint, die historisch, sozioökonomisch oder geopolitisch geprägt sind. Um die politische Kultur der einzelnen Regionen einigermassen zu erfassen, müssten daher nicht nur sämtliche Abstimmungen – und die Rezeption der Vorlagen bei der Bevölkerung – untersucht werden, sondern auch das Wahlverhalten (dem zudem auch eine Analyse des je eigenen Charakters der Parteien und Gruppen folgen müsste) und vor allem die (politischen) Willensbekundungen, die sich ausserhalb des vorgegebenen politischen Systems bewegen. Solches an dieser Stelle zu leisten, ist nicht mein Anspruch. Ferner sei hier am Rand noch darauf hingewiesen, dass diese Definition von «politischer Kultur» nicht mehr uneingeschränkt brauchbar ist vor dem Hintergrund der seit den 60er Jahren in grossem Mass wirkenden Einebnungstendenzen der industriellen Massenkultur (auf wirtschaftlicher und politischer Ebene haben diese Tendenzen bekanntlich viel früher eingesetzt).

Von den oben dargestellten Volksabstimmungen erscheinen folgende potentiell antimilitaristisch oder pazifistisch: die Initiative für die Aufhebung der Militärjustiz (1921), die Antiatomwaffen-Initiativen (1962, 1963), die Initiative für ein Verbot der Waffenausfuhr (1972) – und ev. auch die Initiative «gegen die private Rüstungsindustrie» (1938) – sowie die beiden Zivildienst-Initiativen (1977, 1984).
Die Militärjustizabschaffungs-Initiative (lanciert 1916, Abstimmungsjahr 1921) kann von ihrer Stossrichtung her nicht als antimilitaristisch bezeichnet werden; sie war vorerst geprägt vom Konflikt zwischen Deutsch- und Welschschweizern, der sich in aussenpolitischen Sympathiebekundungen zeigte und innenpolitisch auch Fragen der Armee berührte (Obristenaffaire von 1916). Die SP ihrerseits, welche die Initiative lancierte, konnte mit der Forderung nach der Abschaffung der Militärjustiz ins tagespolitische Geschehen eingreifen und die armeekritische Stimmung der Bevölkerung auf ihre Mühle lenken; damit versuchte sie aber auch gleichzeitig, ihren antimilitaristischen Flügel – die  sozialistische Jugendorganisation und die Zimmerwalder-Linke – zu integrieren (1917 vermochte der linke SP-Flügel allerdings seine antimilitaristischen Vorstellungen in der SP sogar mehrheitsfähig zu machen). Zum Zeitpunkt der Volksabstimmung hatte die Schweiz bereits verschiedene grosse Streiks (u.a. auch den Generalstreik) und die militärischen Einsätze des Bürgertums erlebt, und die Initiative bekam trotz ihres reformistischen Charakters eine antimilitaristische Stossrichtung; die Armee wurde als Herrschaftsinstrument des Bürgertums in Frage gestellt. Diesen Sachverhalt bestätigte auch ein Kommentator der NZZ, der nach der Ablehnung der Initiative bemerkte, die «über sechzigjährige Eiche» habe «vor den roten Mäusen und Ratten ihre Wurzelkraft bewiesen». Bei einer Stimmbeteiligung von 63,1 % wurde die SP-lnitiative mit 393'000 gegen 199'000 Stimmen (Ja-Anteil: 33,6 %) abgelehnt. Zugestimmt wurde der Initiative in den Kantonen Tessin (63,6 %), Neuenburg (55,6 %) und Genf (52,2 %); mehr als den nationalen Durchschnitt von 33 % Ja-Stimmen erhielt das Begehren in den Kantonen Baselstadt (46 %), Schaffhausen (45,1 %) sowie Baselland, Zürich, Bern, Solothurn und Aargau. Eine Bestätigung der These, dass mit dieser Forderung auch die verschiedenen Einsätze von Militärtruppen gegen Streikende thematisiert wurden, ist der hohe Ja-Stimmen-Anteil in direkt betroffenen oder solchen Städten und Bezirken, wo die politische Linke (SP und KP) stark verankert war: Biel (61,4 %), Courtelary (60,9 %). Bern (50,8 %), Schaffhausen (50,8 %), Zürich (49.5 %). Aarau (46,5 %) und Baselstadt (46 %).  Am stärksten verworfen – mit Ja-Stimmen-Anteilen von 10–25 % – wurde die Initiative in der konservativen Innerschweiz und in den Kantonen Freiburg, Appenzell-Innerrhoden und Wallis; als weiteres Bollwerk des Militarismus erwies sich die Ostschweiz. Überraschend war die starke Verwerfung der Forderung nach Aufhebung der Militärjustiz in der Waadt im Verhältnis 3 : 1.

Von einer gewissen Ähnlichkeit mit der 1985 lancierten Armeabschaffungsinitiative der GSoA scheint die Initiative für ein Verbot der Atomwaffen (lanciert 1958, Abstimmungsdatum 1962) zu sein: Die Initiative wandte sich gegen die atomare Aufrüstung und verlangte eine beispielhafte Demonstration der Schweiz gegen Atomrüstung und Atomkrieg; vom Bundesrat erwarteten die Initianten ferner, diplomatische Aktivitäten in Richtung allgemeiner atomarer Abrüstung. Als aggressivste Verfechterin der Armee und der potentiellen atomaren Bewaffnung trat die FDP auf, deren Geschäftsleitung an die Bevölkerung appellierte, die Initiative nicht zu unterzeichnen. Für den heftig geführten Abstimmungskampf bildete sich ein «echt schweizerisches» Gegenkomitee unter der Leitung des liberalen Waadtländer Ständerates F. Fauquex: Sämtliche Parteien – mit Ausnahme der PdA – ordneten Vizepräsidenten ab. Die kantonalen Sektionen der Parteien folgten ihrer Mutterpartei;  nur gerade einige SP-Sektionen gaben die Ja-Parole aus. Unterstützung erhielt die Initiative ferner aus Kreisen der Wissenschaft und der reformierten Kirche. In der Volksabstimmung wurde das Atomwaffenverbot mit 537'000 gegen 287'000 abgelehnt; 34,8 % stimmten der Initiative zu. Angenommen wurde das Volksbegehren von den Kantonen Neuenburg (70,7 %), Waadt (63,7 %), Genf (60,5 %) und Tessin (52,8 %); über dem nationalen Durchschnitt war der Ja-Stimmenanteil in den Kantonen Baselstadt (47 %), Bern (37,8 %), Baselland (37,8 %) und Wallis (37,2 %). Im Kanton Bern nahmen Biel (54,2 %) und die jurassischen Bezirke die Vorlage an: Courtelary (75,9 %), Moutier (74,1 %), Delémont (68,9 %), Porrentruy (64,5 %), Les Franches-Montagnes (63,7 %), La Neuveville (54,5 %); im Wallis waren dies die Bezirke Monthey (54,8 %), Saint-Maurice (53,7 %), Sierre (52,3 %) und Martigny (51.7 %); alle übrigen Bezirke – ausgenommen die Mehrheit der Bezirke der zustimmenden Kantone – verwarfen die Forderung nach einem Atomwaffenverbot. Kurz nach der Volksabstimmung führte die Basler National-Zeitung (4.4.1962) eine Umfrage durch, welche ergab, dass die Jungwähler der deutschen Schweiz bei einer geringen Stimmbeteiligung die Initiative überwiegend verworfen hatte, während in der Westschweiz richtiggehend von einem «Aufstand der Jungen» gegen die atomare Bewaffnung gesprochen werden konnte.

Die zweite Atomwaffen-Initiative, lanciert von der SP – die zerrissen war in den SMUV-Flügel und jene Sektionen, welche bereits die «Chevallier-Initiativen» und die erste Atomwaffenverbots-Initiative unterstützt hatten – wurde allgemein als taktischer Schachzug gegen die Verbots-Initiative empfunden. Die SP selber bestätigte dies auch in den parlamentarischen Verhandlungen: SP-Präsident Bringolf scheute im Nationalrat nicht einmal ein Zusammengehen mit dem FDP-Mann und NZZ-Redaktor Bretscher, um eine Motion durchzubringen, welche die erstmalige Bewaffnung der Armee mit Atomwaffen dem fakultativen Referendum unterstellt hätte; darauf wäre die Initiative zurückgezogen worden. Das Parlament ersparte der Koalition von SP und FDP aber «diesen absolut unnötigen Abstimmungskampf» (Bringolf) nicht und wollte einen grundsätzlichen Entscheid des Volkes für die atomare Bewaffnung herbeiführten. Zur Abstimmung stand somit plötzlich nochmals die Frage eines Atomwaffenverbotes. Bei einer um 7 % tieferen Stimmbeteiligung (48,8 %) sprach sich der Souverän mit 62,2 % gegen die Initiative aus. Das «Abstimmungsprofil» war jenem der ersten Abstimmung sehr ähnlich: Die Kantone Neuenburg (69,5 %), Genf (64,6 %), Waadt (59,2.%), Tessin (55,9 %) und neu Baselstadt (52 %) stimmten einem Verbot zu; überdurchschnittlich waren die Ja-Stimmen ferner in Baselland (44,2.%), Bern (42,3 %) und Schaffhausen (41,1 %). Im Kanton Bern gehörten wiederum die jurassischen Bezirke und Biel zu den mehrheitlich Ja-Stimmenden. Geringer als 1962 war die Zustimmung allerdings in den Bezirken der Kantone Waadt und Wallis.

Die Initiative für eine «vermehrte Rüstungskontrolle und ein Waffenausfuhrverbot» vermochte von den friedenspolitischen Forderungen anteilmässig die meisten Ja-Stimmen auf sich zu vereinigen: Bei einer Stimmbeteiligung von 33,1 % unterstützten 49,7 % das Volksbegehren. (585'000 :  593'000). Angenommen wurde das Waffenausfuhrverbot in den Kantonen Tessin (69,4 %), Baselstadt (66,2 %) Neuenburg (60,2 %), Waadt (60 %), Baselland (59,4 %), Genf (56,3 %), Freiburg (51,8, %) und Aargau (50,2 %). Zustimmung erfuhr die Initiative auch in den meisten Städten mit über 30'000 EinwohnerInnen. Nur knapp war die Verwerfung in Graubünden (48,8 %), Wallis (48,8 %) Zürich (48,8 %) und Bern (47 %). Ein Vergleich mit der Volksabstimmung von 1938 über die ähnlich lautende Initiative «gegen die private Rüstungsindustrie» ist nur beschränkt möglich, da die Initianten damals ihre Initiative zugunsten des bundesrätlichen Gegenvorschlages nur halbherzig unterstützten; der Kanton Genf beispielsweise – normalerweise immer in der Spitzengruppe der Armeekritiker – lehnte die Initiative mit nur 15 % Ja-Stimmen ab. Eine Zustimmungsquote, die über dem nationalen Durchschnitt (13,6 %) lag, verzeichneten Baselstadt (25 %), Baselland (18,9 %), Zürich (17,3 %), Bern (16,4 %), Waadt (15,3 %) und Appenzell-Ausserrhoden (14,4 %).

Bezüglich der beiden Abstimmungen über die Einführung eines Zivildienstes sind wir in der komfortablen Lage, dass wir neben den Abstimmungsdaten auch über Repräsentativumfragen, die Vox-Analysen, verfügen, welche das Umfeld der Meinungsbildung zu den Initiativen soziologisch und politologisch analysieren. Die erste Zivildienst-Initiative, die «Münchensteiner»-Initiative (lanciert 1970, Abstimmungsdatum 1977), wurde bei einer Stimmbeteiligung von 38,3 % mit 886'000 gegen 534'000 verworfen; angenommen wurde sie in keinem Kanton. Über dem nationalen Durchschnitt von 37,6 % lag die Zustimmungsquote in den Kantonen Tessin (49,8 %), Neuenburg (49.3 %), Baselstadt (47,7 %), Baselland (46,4 %), Waadt (43.3 %), Solothurn (39,7 %), Zürich (39,7 %), Bern (38,9 %) und Genf (38 %). Eine Ja-Stimmen-Mehrheit konnte mindestens in all jenen Bezirken festgestellt werden, die sich schon bei den bisher behandelten Vorlagen armeekritisch geäussert hatten: Dies waren im Kanton Bern die Bezirke, die seit 1978 den Kanton Jura bilden (Les Franches-Montagnes, Delémont, Porrentruy), in Baselland Arlesheim (50,2 %), im Tessin Bellinzona (54,2 %), Mendrisio (51,4 %) und Vallemaggia (50,1 %) und im Kanton Neuenburg La Chaux-de-Fonds (59.9 %) und Le Locle (55 %). Die Vox-Analyse stellte fest, dass unter den Nein-Stimmenden 20 % für einen Zivildienst waren, der auch, wie es die «Tatbeweis-Initiative» verlangte, die politischen Verweigerer umfasste. Als Merkmale für die Meinungsbildung zur ersten Zivildienst-Initiative eruierte die Umfrage das Alter und die Parteiensympathie: Von den 65-bis 85jährigen stimmen 70 % gegen und von den 20- bis 39jährigen 54 % für die Initiative (die Autoren der Vox-Analysen bemerkten denn auch spitz – mit Hinweis auf die Überalterung der Gegnerlnnen – dass sich eine Pause für die Zivildienst-Idee als «schöpferisch» erweisen würde, wenn sie nur lange genug dauere). Bezüglich der Parteiensympathien zeigte sich, dass – trotz der Stimmfreigabe der Linksparteien – beispielsweise 57 % der SP-Anhängerlnnen für die Initiative stimmten. Als Verfechterinnen einer harten promilitärischen Linie erwiesen sich FDP und Liberale Partei, deren Symathisantlnnen zu 86 % (FDP) und 75 % (LP) Nein stimmten. Obwohl die Lehrer von Münchenstein mit ihrer gemässigten Zivildienst-Variante die Armee keineswegs in Frage stellten (die Militärdienstpflicht sollte ja weiterhin der Normalfall sein), beschworen die Gegnerlnnen das Gespenst der Armeeabschaffung, welches mit der Einführung eines Zivildienstes losgelassen würde. Die Autoren der Vox-Analyse fragten daher auch nach der Meinung bezüglich einer Schweiz ohne Armee: Für 7 % der aktiven Stimmbürgerlnnen war diese Vision wünschenswert, bei jenen, die der Urne ferngeblieben waren, war der Anteil gar 15 %.

Bei der Abstimmung über die radikalere Initiative «für einen echten Zivildienst auf der Grundlage des Tatbeweises» fällt auf, dass diese im Vergleich zur «Münchenstein-Initiative» bei einer wesentlich höheren Stimmbeteiligung (1977: 38,3 %, 1984: 52,8 %) nur 2 % weniger Ja-Stimmen erhielt und absolut sogar 238'000 Stimmen mehr auf sich zu vereinigen vermochte. 1 1/2 Kantone nahmen sie sogar an (Baselstadt mit 53,1 % und Genf mit 52,3 %). Überdurchschnittlich hoch war der Ja-Stimmen-Anteil, wie schon 1977, in Baselland (46,1 %), Neuenburg (43 %), Tessin (41,1 %), Zürich (40,8 %), Waadt (39,6 %) und im neugegründeten Kanton Jura (49,8 %); in Bern fielen wiederum die drei jurassischen Bezirke, Biel und – neu – Laufen auf. Die Vox-Analyse nannte als stärkste Merkmalgruppe im Stimmverhalten die Parteiensympathie: Entschlossene Gegnerlnnen der Zivildienstforderung waren die AnhängerInnen von SVP und FDP; 88 % der FDP- und 87 % der SVP-SympathisantInnen verwarfen die Initiative. Im fast gleichen Ausmass stimmten hingegen die AnhängerInnen der Grünen und Linksparteien zu (Grüne: 90 %, POCH: 89 %, SP: 67 %). Eine gewisse Veränderung gegenüber 1977 stellten die Autoren der Vox-Analyse bezüglich der Altersstruktur fest: Gehörten damals vor allem die über 65jährigen zu den Nein-Sagerlnnen, stimmten 1984 65 % der 65- bis 84jährigen und – erstaunlich – gar 66 % der 44-bis 64jährigen gegen die Initiative. Den Prototyp der Ablehnenden der Zivildienst-Initiative umschreiben die Vox-Autoren wie folgt: Er ist 40-64 Jahre alt, männlich, in der Deutschschweiz auf dem Lande wohnhaft und sympathisiert mit den bürgerlichen Bundesratsparteien.
 

Abschliessende Betrachtungen

Die obige Analyse von sechs militärpolitischen Abstimmungsvorlagen zeigte, dass diese – mit Ausnahme der populären Waffenausfuhrverbots-Initiative – nur in der französischen und italienischen Schweiz sowie in Baselstadt auf Zustimmung stiessen: Der Kanton Genf nahm fünf, Neuenburg und Tessin nahmen vier und Baselstadt und Waadt drei Vorlagen an; den restlichen Initiativen stimmten diese Kantone fast durchwegs mit überdurchschnittlichen Ja-Anteilen zu. In der deutschen Schweiz, ausgenommen Baselstadt, wurde nur die Waffenausfuhrverbots-Initiative in einigen Kantonen angenommen. Überdurchschnittlich waren die Ja-Stimmen-Anteile zu den sechs Abstimmungsvorlagen in den Kantonen Bern und Baselland (in beiden fünf Mal), Zürich (vier Mal) und Schaffhausen (drei Mal); dies sind Kantone, in denen die Linksparteien, relativ stark vertreten sind oder waren. In Schaffhausen stimmte der Souverän bis zu den 60er Jahren armeekritisch, in Zürich ab den 70er Jahren. Die Abstimmungsresultate des Kantons Bern müssen mit dem Hinweis darauf relativiert werden, dass der relativ hohe Ja-Stimmen-Anteil vor allem den sechs jurassischen Bezirken und der Stadt Biel zuzuschreiben ist, welche fast durchwegs den erwähnten Vorlagen zustimmten.

Aufgrund des Tatbestandes, dass die welschen Kantone, Baselstadt sowie die Kantone mit starken Linksparteien sich armeekritischen und friedenspolitischen Forderungen gegenüber weniger verschlossen gezeigt haben, kann jedoch nicht ohne weiteres gefolgert werden, dass diese Landesteile die Initiative für die Abschaffung der Armee gleichermassen unterstützen würden. Ihr aufgezeigtes Abstimmungsverhalten ist vor allem zu verstehen als ein gewisses Abseitsstehen vom nationalen Konsens  deutschschweizerischer, konservativer Prägung von jenem Konsens, den die FDP St. Gallen gemeint hatte, als sie gegen die Armeeabschaffungsforderung argumentierte, die Schweiz sei eine Armee. Mit diesem Hinweis, aber auch mit dem aggressiven Auftreten rechtsbürgerlicher, überwiegend deutschsprachiger Parlamentarier gegen die Initiative für die Abschaffung der Armee im Rechtsaussen-Blatt «Schweizerzeit» wurde aber ein Zusammenhang geschaffen zwischen der Armeefrage und dem deutschschweizerischen, konservativen Konsens, der von uns Armeegegnerlnnen nicht unbeachtet gelassen werden sollte.

Zu weiten Teilen in diesen Konsens integriert sind nach ihrer im 19. Jahrhundert geübten föderalistischen, konservativen Opposition die Kantone der Zentral- und Ostschweiz. Eine eigene Stellung im konservativen Block – auch bezüglich der Armeefrage – nimmt der Kanton Wallis ein: 1954 setzte sich die Walliser Regierung beim Bundesrat für die Gültigerklärung der «Chevallier-Initiative» ein, und kurz darauf lud eine Motion des Grossen Rates den Bundesrat ein, die Militärausgaben herabzusetzen und die Dauer der RS von vier Monaten auf drei zu kürzen. Aus dem Kanton Wallis stammte ferner der vom Volk für insgesamt 32 Jahre in den Nationalrat gewählte Kämpfer gegen den Militärmoloch, Karl Dellberg (der «rote Löwe von Siders»), und auch heute haben sich im Wallis wieder einige Unentwegte zusammengefunden, mit dem Ziel, die Armee abzuschaffen. Letztlich kann die Opposition der Walliserlnnen gegen das Militär aber auch auf eine geringere Integration in den nationalen Konsens zurückgeführt werden.

Das Abseitsstehen vom nationalen Konsens deutschschweizerischer, konservativer Prägung scheint somit ein Kernbegriff der Auseinandersetzung um eine Schweiz ohne Armee zu sein. Im ersten Drittel der Sammelfrist hat die GSoA 40'000 Unterschriften zusammen getragen – fast alle stammen aus der deutschen Schweiz. Angesichts der noch «brachliegenden» Kantone der französischen und italienischen Schweiz, welche am herrschenden Konsens nicht allzu stark teilhaben und sich während der letzten sechzig Jahre armeekritischen und friedenspolitischen Vorschlägen gegenüber offener als die Deutschschweiz gezeigt haben, scheint ein Optimismus bezüglich des Zustandekommens der Initiative berechtigt, wenn es gelingt, mit der Bevölkerung in diesen Landesteilen über unsere Ideen ins Gespräch zu kommen.
 
 

Résumé
«'Il faut être fou pour dire que la Suisse est une armée.' 
Initiatives populaires et référendums concernant la politique militaire de 1848 à 1984; analyse des résuItats en votation selon les régions».

«La Suisse est une armée»: cette affirmation toujours répétée sert à Werner Seitz de point  départ pour un examen historique de la validitdé de ce «mythe totalitaire de la Suisse».

Considérant  toutes les initiatives populaires et tous les référendums qui ont concerné la politique militaire depuis 1848, l'historien en vient à constater que «l'armée n'est de loin pas aussi sacrée pour la population que la bourgeoisie le voudrait»! Même si l'analyse en fonction des régions laisse voir des conceptions différentes en ce qui concerne le domaine militaire, Seitz montre que l'opposition entre mouvement ouvrier et bourgeoisie a gardé son sens sur la question de l'armée. Ce qui est compréhensible, I'armée fonctionnant comme instrument de domination intérieure aux mains de la bourgeoisie. Quant à la justification sempiternelle de l'armée à l'aide de considérations d'économie publiqe, elle explique sans aucun doute les difficultés rencontrées par le mouvement ouvrier sur la question de l'armée, ainsi d'ailleurs que la diversité des attitudes  régionales quant à ce problème, liées à la politique de l'emploi.

On peut enfin constater que quelques régions se «tiennent à l'écart du consensus national à dominante alémanique et conservatrice». Considération qui revêt une importance particulière pour revendiquer une Suisse sans armée: le fait que près de la moitié des signatures récoltées jusqu'ici proviennent de Suisse allemande permet de regarder l'avenir de l'initiative avec optimisme; la tradition, critique à l'égard de l'armée, des cantons de Suisse romande et italienne, peu intégrés à «la nation», révèle à l'historien un fort potentiel de signatures non encore récoltées...

Autre découverte intéressante de Seitz: la thèse de la «contre-productivité» n'est pas sans tradition. La provocation que constituerait un verdict populaire négatif fut déjà reprochée à l'«Initiative Chevalier» des années 50: Jules Humbert-Droz, alors président du CAP (Conseil suisse des Associations pour la Paix) et secrétaire central du parti socialiste, craignait précisément que cette initiative ne suscite de nouvelles poussées pour une augmentation des dépenses d'armement... 


(trad. P. Reck)

  
    

Werner Seitz
geboren 1954 in Bern, lic.phil.hist, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Bern, Mitglied der POCH. Mitglied des Redaktionskollektivs des «Widerspruch», Zürich.