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    Werner Seitz

    Rezension:
    «Epple, Ruedi (1998), Bewegung im Übergang. Zur Geschichte der Politik im Kanton Basel-Landschaft 1890–1990», Liestal: Verlag des Kantons Basel-Landschaft, 660 Seiten,
    in Schweizerische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 6/2000, Nr. 2, S. 103–107.      


    Die Studie von Ruedi Epple entstand im Rahmen des Projekts «Neue Baselbieter Geschichte» und diente, zusammen mit rund einem Dutzend weiterer Monographien, als Grundlage für die auf 2001 geplante neue Kantonsgeschichte. Sie enthält jedoch so viel Interessantes über die Geschichte der Politik und über die methodischen Möglichkeiten, diese zu eruieren, dass sie auch als eigenständiges Werk für die Politik- wie für die Geschichtswissenschaft von Nutzen sein dürfte.

    Epple untersucht in seiner umfangreichen Studie drei ausgewählte politische Bewegungen, welche in den vergangenen hundert Jahren im Kanton Basel-Landschaft aktiv waren. Dabei interessiert ihn hauptsächlich die Frage, wie diese Bewegungen ihre eigenen Erfahrungen und die Erfahrungen ihrer Vorgängerinnen verarbeiten und wie sie dazu lernten. Als Vermittlungsinstanz zwischen den Bewegungen und der Gesellschaft bringt Epple den Begriff der politischen Kultur ins Spiel, welchen er – im Gegensatz zu manch anderem Politikwissenschafter – klug und produktiv anwendet.

    Bevor Epple die Bewegungen untersucht, legt er auf knapp hundert Seiten seine theoretischen Annahmen dar. Er unterstreicht damit seinen Anspruch, die Geschichte der Baselbieter Politik auch im Hinblick auf die Strukturen, die ihr zugrunde liegen und deren Wechselwirkungen mit der politischen Kultur zu analysieren. Theoretische Grundlage ist für Epple die sogenannte Regulationstheorie, welche auf dem französischen Strukturalismus und der historischen Annales-Schule beruht und im Wesentlichen die logischen Begriffe der marxistischen Kapitalismuskritik enthält. Die an sich interessanten Ausführungen leiden jedoch etwas unter der Vielzahl von Zitaten, was namentlich wenn diese von so umständlichen Schreibern wie Joachim Hirsch stammen, nur wenig zur Erhellung beiträgt.

    Im Zentrum der Studie stehen drei politische Bewegungen, welche Epple in Form von vier Fallstudien untersucht. Die erste Fallstudie beschäftigt sich mit dem «Bauern- und Arbeiterbund» (BAB), der für die Zeit von 1890–1898 untersucht wird. Der BAB war ein Dachverband von vier Organisationen aus der Landwirtschaft, der Arbeiterbewegung und der «Frei-Land»-Gesellschaft (letztere sprach sich gegen den privaten Bodenbesitz aus). Ihr gemeinsamer politischer Nenner war die Hypothekarfrage, welche namentlich die Kleinbauern bedrängte. Um die Schwäche in Parlament und Regierung zu kompensieren, beschritt der BAB den Weg der direkten Demokratie. Eine erste Volksinitiative, welche sich gegen den «Amortisationsfonds»-Beschluss des Parlamentes wandte (der nach Meinung des BAB hätte den Hypothekarschuldnern entgegenkommen sollen), wurde für ungültig erklärt. Eine zweite, welche in Richtung der Verstaatlichung des Hypothekarwesens zielte und verschiedene Forderungen zu Gunsten der Hypothekarschuldner enthielt, wurde in der Volksabstimmung deutlich abgelehnt. Epple erklärt das Scheitern des BAB damit, dass dieser das Problem der Hypothekarverschuldung auf der kantonalen Ebene lösen wollte (gewissermassen schon in Richtung Sozialstaat), während die politische Kultur damals noch mehrheitlich in der alten kommunalen Regulationsweise, der kooperativen Selbsthilfe verankert war. So gesehen war es für Epple folgerichtig, dass sich der BAB nach der verlorenen Volksabstimmung der Förderung des Genossenschaftswesens zuwandte, welche der traditionellen politischen Kultur besser entsprach.

    Die drei anderen Fallstudien kreisen um die Frage der Wiedervereinigung der seit 1833 geteilten Basler Halbkantone. Da diese Frage in beiden Halbkantonen diskutiert wurde und in jedem je Befürworter und Gegner fand, besteht die Gefahr, redundant zu werden und Epple ist ihr teilweise erlegen.

    Zuerst analysiert Epple die Bewegung für die Wiedervereinigung beider Basel, und zwar in der Zeit von 1914–1938. Wurde diese Bewegung vor dem ersten Weltkrieg auf dem Land von den patriotischen Schützenverbänden und in der Stadt von der bildungsbürgerlichen Elite getragen, so mutierte die Wiedervereinigung immer mehr zu einem «sozialen Projekt»: Die Vorortsgemeinden von Basel, welche zu Basel-Landschaft gehörten, hatten nämlich vermehrt jene Probleme zu tragen, die sich durch die Industrialisierung ergaben (die stark steigende Zahl der Arbeiter und, damit verbunden, die steigenden Auslagen für Infrastruktur und Armenfürsorge). 1932 wurde in beiden Basel eine Volksinitiative lanciert, welche im Wesentlichen Verfahrensbestimmungen für die Wiedervereinigung enthielt. Erst nach einem Machtwort des Bundesgerichtes unterbreitete der Baselbieter Regierungsrat diese Initiative dem Volk zur Stellungnahme; sie wurde 1936 angenommen (wie auch in Basel-Stadt). Der Kanton Basel-Landschaft war allerdings deutlich gespalten: Die stadtnahen Agglomerationsgemeinden stimmten im Verhältnis von 4:1 zu, die ländlichen Gemeinden des oberen Baselbiet verwarfen mit 2:1. Die beiden folgenden Urnengänge betreffend die Wahl des Verfassungsrates und den von diesem erarbeiteten Wiedervereinigungstext führten zu ähnlichen Ergebnissen. Als die eidg. Räte diese Verfassungsänderungen der beiden Basel genehmigen sollten, setzten sie die Behandlung des Geschäftes – unter dem Eindruck des zweiten Weltkrieges – vorerst aus, und 1947 bzw. 1948 lehnten der Stände- und der Nationalrat die Gewährleistung ab.

    In der dritten Fallstudie analysiert Epple die Baselbieter Bewegung gegen die Wiedervereinigung (1930–1940), welche für diese Phase vom «Heimatbund für das selbständige Baselbiet» repräsentiert wird. Dieser wurde 1932 als Reaktion auf die lancierte Wiedervereinigungs-Initiative gegründet, gegen die er zum Boykott aufrief. Als Hauptgrund gegen die Wiedervereinigung nannte der Heimatbund die Zentralisierung mit all ihren unerwünschten Nebenwirkungen namentlich der Dominanz der Stadt über das Land, und zwar im kulturellen wie im wirtschaftlichen Sinn; er vermochte sich jedoch in den Volksabstimmungen nicht durchzusetzen. Soziologisch gesehen waren die Arbeiter (im unteren Kantonsteil) für die Wiedervereinigung, die Bauern und Gewerbetreibende (im oberen Kantonsteil) dagegen. Unterstützt wurde die Wiedervereinigung von der SP, bekämpft von der FDP und der Bauernpartei.

    Nachdem wegen dem Nicht-Gewährungsentscheid der eidg. Räte der Wiedervereinigungsverband in einen «Schockzustand» gefallen war, nahm sich zu Beginn der fünfziger Jahre die «Aktion Kanton Basel», eine Ein-Themen-Partei, des Geschäfts der Wiedervereinigung in Basel-Landschaft an. Sie lancierte 1957 eine Standesinitiative, welche die Regierung verpflichtete, ein Wiedererwägungsgesuch an die eidg. Räte zu stellen und die Arbeiten für die Wiedervereinigung aufzunehmen. Auch dieser Vorstoss fand eine Volksmehrheit, worauf 1958 Verfassungsratswahlen stattfanden, welche wieder die bekannten Fronten bestätigten. 1960 kam der neue Wiedervereinigungsartikel zur Abstimmung – und die Baselbieter sagten ein viertes Mal Ja zur Wiedervereinigung.

    Während die Befürworter also von Sieg zu Sieg eilten – was jedoch wegen der Weigerung der eidg. Räte keine Früchte trug –, war die gegnerische Bewegung immer mehr am Bröckeln. 1957 konstituierte sie sich neu als «Selbständiges Baselbiet» (SB). Dessen Aktivitäten von 1960–1970 werden von Epple in der vierten Fallstudie analysiert. Die Lehren aus den Niederlagen ziehend, schlug das SB eine Modernisierungsstrategie ein, um die Agglomerationsgemeinden von Basel besser in den Kanton Basel-Landschaft einzubinden. Dieser Schritt von der strukturkonservativen Defensive zur Modernisierung war nach Epple ein grundlegender und wirkungsvoller Lernschritt der Wiedervereinigungsgegner. Dabei gab das SB sein konservatives Standbein nicht ganz auf. So wurden jährlich mit grossem Pomp Volkstage abgehalten, und die Jugend brannte Höhenfeuer ab und zog 1964 in einen viel beachteten Marsch an die Expo nach Lausanne. Zusammengehalten wurden die verschiedenen gegnerischen Argumentationslinien durch das Motto «Kooperation statt Wiedervereinigung».

    Als die eidg. Räte auf Grund der Baselbieter Standesinitiative 1960 auf ihren Entscheid zurückkamen und die Verfassungsänderungsartikel der dreissiger Jahre genehmigten, war der Weg frei für die Konkretisierung der Wiedervereinigung. 1969 kam es – in beiden Basel – zur alles entscheidenden Abstimmung über die neue Verfassung des Kantons Basel. Bei dieser Abstimmung zeigte sich das vereinigungsgegnerische SB hauptsächlich von seiner modernen Seite: Anstelle der «Blut- und Boden»-Parolen des alten Heimatbundes sprach das SB vom Kanton Basel-Landschaft als Industriekanton und unterstrich die Bedeutung der regionalen Zusammenarbeit. Damit wurden die erfolgsverwöhnten und etwas träge gewordenen Wiedervereinigungsfreunde auf dem falschen Standbein erwischt: Die Abstimmungsvorlagen wurden klar verworfen (während Basel-Stadt erneut Ja stimmte). Nach diesem Sieg gingen die Gegner in die Offensive und lancierten eine Volksinitiative für die Partnerschaft mit den Nachbarkantonen und für die Streichung des Wiedervereinigungsartikels aus der Baselbieter Kantonsverfassung. Auch diese Volksinitiative wurde angenommen (1970). Darauf wurde in beiden Basel ein Verfassungsartikel ausgearbeitet, der die Partnerschaft zwischen Stadt und Landschaft verankern wollte. In der Volksabstimmung von 1974 fand dieser in beiden Halbkantonen eine Mehrheit, womit die Wiedervereinigungsfrage ihr Ende fand.

    Epple erklärt den letztendlichen und alles entscheidenden Sieg der Wiedervereinigungsgegner damit, dass diese ihre Argumente dem gesellschaftlichen Wandel angepasst hätten und mit dem Argument der «Kooperation» demjenigen der «Wiedervereinigung» ein «funktionales Äquivalent» entgegenzustellen vermochten. Ausschlaggebend war, dass diese Änderung der Strategie der Wiedervereinigungsgegner der Veränderung der politischen Kultur relativ gut entsprach: Die martialischen Auftritte und das Beschwören der Heimat wurden in den sechziger Jahren zu Gunsten von modernen Kommunikationsformen und von Entwürfen zur interregionalen Zusammenarbeit zurückgestellt.

    Zum Abschluss der Würdigung der erfolgreichen Strategie des SB hält Epple fest: «Die Bewegung gegen die Wiedervereinigung hinterliess die Erfahrung, dass sich politisches Engagement lohnen kann, und sie verbreitete politisches Know-how, das später als eingeübte Praxis in der politischen Kultur abrufbar bereit lag. So übernahmen zum Beispiel die Atomkraftwerkgegnerinnen und -gegner um Kaiseraugst, ohne dass es ihnen bewusst gewesen wäre, das Organisationskonzept der Wiedervereinigungsgegner und bildeten als Basis der Bewegung in der ganzen Region lokal verankerte Ortsgruppen und Bürgerinitiativen» (S. 478). Mit solchen Aussagen weckt Epple natürlich den Appetit auf mehr, namentlich auf eine Analyse der angesprochenen Anti-AKW-Bewegung. Doch diese Fallstudie fehlt in dieser Baselbieter Bewegungsgeschichte, was sehr zu bedauern ist.

    Im letzten Teil untersucht Epple die Wirkungen der politischen Bewegungen auf die politischen Institutionen und auf die politische Kultur. Erwähnung verdient namentlich der Einbezug der Analyse der Abstimmungsergebnisse. Epple stellt sich zwar in die Tradition der sogenannten «alten Abstimmungsforschung» der dreissiger Jahre 1), er aktualisiert diese jedoch mit innovativen Ideen, die hoffentlich von der historischen Abstimmungsforschung zur Kenntnis genommen werden. So geht Epple nicht, wie die «Schule der Zürcher Soziologen» der achtziger Jahre, die neuerdings wieder in Mode zu kommen scheint, vom Gros der Ergebnisse aller Volksabstimmungen aus, sondern er bildet aus den verschiedenen Abstimmungsvorlagen thematische Gruppen, die er zielgerichtet in Bezug auf die Entstehung, die Dominanz und das Verschwinden der drei politischen Paradigmen (Joachim Raschke) untersucht. Eine hohe Stimmbeteiligung und eine geringe Ja/Nein-Stimmen-Differenz weisen auf ein umkämpftes Paradigma hin, eine niedrige Stimmbeteiligung und eine grosse Ja/Nein-Stimmen-Differenz auf ein unbestrittenes Paradigma. Anhand der Volksabstimmungen über Vorlagen betreffend die Steuer- und die Sanitätspolitik zeigt Epple vorerst auf, wie sich im 19. Jahrhundert das Herrschaftsparadigma, bei dem es um politischen Machtzuweisung geht, allmählich durchsetzte. Darauf verwendet Epple die Abstimmungen über die Sozialpolitik als Indikatoren für das Verteilungsparadigma des Wohlfahrtstaates, welches zuerst heftig umstritten, später aber akzeptiert war. Beim dritten Paradigma (betreffend die Lebensqualität/Ökologie) stellt Epple aufgrund der Abstimmungsergebnisse fest, dass dieses sich noch nicht durchgesetzt habe.2)

    Ebenfalls von Interesse – allerdings mehr für historische Analysen – dürfte Epples Rekonstruktion der sozialen Netzwerke sein.3) Um herauszufinden, wie die Bewegung des Arbeiter- und Bauernbundes (BAB) und die Wiedervereinigungsbefürworter und -gegner strukturiert waren, verwendet Epple nicht nur die Mitgliederverzeichnisse der Verbände, sondern er wertet auch die Unterschriften, die für die verschiedenen Volksinitiativen gesammelt wurden, aus (heute werden diese Unterlagen aus Datenschutzgründen vernichtet). Im Wissen, dass im 19. und frühen 20. Jahrhundert die Unterschriften für die Volksinitiativen hauptsächlich mittels Vertrauensmännern gesammelt wurden, betrachtet er jene Personen als zum Netzwerk gehörig, welche mehr als eine Volksinitiative des Netzwerkes unterzeichnet haben. Diese Unterschriften der Volksinitiativen geben nicht nur über die die Wohngemeinde der Unterzeichner – also über die geographische Struktur des Netzwerkes – Auskunft; sie beinhalten zudem, da sie zu über 50% auch die Berufsbezeichnung enthalten, Informationen über die Sozialstruktur des Netzwerkes.

    In den abschliessenden Ausführungen über das Stimmrecht, die Stimmbeteiligung und die politische Kultur durchläuft Epple die Geschichte der politischen Integration und der sozialen Kontrolle. Gibt das Buch von Epple immer wieder in schöner Sprache sinnliche Einblicke, wie die Politik im 19. und 20. Jahrhundert stattfand, so sei hier besonders auf jenes Kapitel verwiesen, welches in eindrücklicher Art schildert, wie an geschlossenen Versammlungen abgestimmt und gewählt wurde (S. 582 ff). Diese Stelle verdiente durchaus, in ein Staatskundebuch aufgenommen zu werden.

    Entsprechend der Funktion, welche der Analyse Epples als Monographie in der Forschungsphase des Projekts «Neue Baselbieter Geschichte» zukommt, ist die Studie relativ breit angelegt und eine forschungsleitende Fragestellung ist nicht immer erkennbar. Es ist so kein Werk aus einem Guss; es finden sich neben theoretisch hochstehenden Erläuterungen beeindruckend viele Details und manchmal auch Redundantes. Das Hauptverdienst Epples besteht darin, dass es ihm gelungen ist, die besonderen Stärken der Geschichts- und der Politikwissenschaft für seine Untersuchung fruchtbar zu machen: So bereichert er einerseits seine historische Analyse mit den Instrumenten der sozialwissenschaftlichen Forschung, und andrerseits ruft er in Erinnerung, dass die Politikwissenschaft nicht eine ahistorische Angelegenheit ist. So gesehen hat er den Rat seines ehemaligen Gymnasiallehrers beherzigt und exemplarisch umgesetzt, der ihm, als er als Gymnasiast erklärte, er wolle Politikwissenschaft studieren, mit auf den Weg gab, dass zur Politikwissenschaft auch die Geschichte gehöre.
     

    Anmerkungen:
    1) Siehe dazu: SEITZ, Werner (1997). Die politische Kultur und ihre Beziehung zum Abstimmungsverhalten. Eine Begriffsgeschichte und Methodenkritik. Zürich: Realotopia, S. 306 ff.
    2) Siehe dazu auch: EPPLE, Ruedi (1997). «Der Paradigmenwechsel im Abstimmungsverhalten: Aspekte der politischen Kultur des Kantons Basel-Landschaft», Schweizerische Zeitschrift für Politische Wissenschaft 3 (2): 31–56.
    3) Epple vertieft hier sein Konzept der Netzwerke aus seiner Dissertation: EPPLE-GASS, Rudolf (1988): Friedensbewegung und direkte Demokratie in der Schweiz. Frankfurt am Main: Haag und Herchen, S. 220 ff.  

     
     

    Werner Seitz
    Bundesamt für Statistik
    Neuchâtel