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Rezension in Schweizerische Zeitschrift für Politische Wissenschaft (Ruedi Epple)  


Rezension
Schweizerische Zeitschrift für Politische Wissenschaft, 4/1998, Heft Nr. 1
Ruedi Epple, Forschungsstelle Baselbieter Geschichte, Liestal


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 Es kommt nicht sehr häufig vor, dass mir berufliche Pflichtlektüre Vergnügen bereitet. Bei der Dissertation von Werner Seitz über «Die politische Kultur und ihre Beziehung zum Abstimmungsverhalten» war es wieder einmal der Fall. Werner Seitz breitet im ersten und umfangreicheren Teil die Geschichte des Konzepts «Politische Kultur» bis in alle seine Verästelungen aus. Ich treffe auf Autoren und Diskussionen, denen ich bereits während meines Studiums begegnete. Jetzt, in Seitz' «Begriffsgeschichte» sind ihre Werke kompetent zusammengefasst und in ihren wissenschaftlichen Diskussionszusammenhang gestellt. Die Spreu findet sich vom Weizen getrennt.

Werner Seitz gibt Gelegenheit, die wissenschaftliche Auseinandersetzung um das Konzept «politische Kultur» aus zeitlicher Distanz nochmals Revue passieren zu lassen. Seine Darstellung verschafft eine tolle Übersicht über eine interessante Debatte. Er verhilft zu manchen Aha-Erlebnissen, welche im «Lärm» und «Pulverdampf» des damals aktuellen wissenschaftlichen Gefechts nicht unmittelbar zu erkennen waren. Doch nicht nur inhaltlich, auch in ihrer Form überzeugt Seitz' Studie. Sie ist sprachlich konsequent durchgearbeitet und verständlich. Der Leser ist nie alleine gelassen. Häufige Ausblicke und Zusammenfassungen strukturieren den Text und zeigen, wo der Autor und seine Leser stehen.

Werner Seitz verhilft dem Begriff «politische Kultur» zu mehr Konturen. Dessen historische und gesellschaftliche Dimensionen arbeitet er deutlich heraus. Das Konzept verliert bei ihm an Schwammigkeit und gewinnt dafür an Klarheit und Komplexität. Der Vorteil ist, dass es in der von Seitz verfassten Form nicht mehr vorschnell als Kampfbegriff für das tagespolitische Handgemenge zu verwenden ist. Ein Nachteil mag auf den ersten Blick sein, dass sich politische Kultur empirisch nicht mehr einfach ermitteln lässt.

Die Konsequenzen, die sich aus Seitz' begriffsgeschichtlicher Abhandlung im ersten Teil ergeben, werden im zweiten Teil seiner Arbeit deutlich spürbar. Er befasst sich hier unter methodenkritischen Gesichtspunkten mit dem Verhältnis zwischen politischer Kultur und dem Abstimmungsverhalten sowie mit der Möglichkeit, durch Abstimmungsanalysen der politischen Kultur auf die Schliche zu kommen. Da diese sich nach Seitz nur gebrochen im Abstimmungsverhalten ausdrückt, lässt sich ? so eine seiner Schlussfolgerungen ? nicht einfach von Abstimmungsergebnissen auf politische Kulturen zurückschliessen. Abstimmungsverhalten aktualisiert nur einzelne ihrer Aspekte und ist zudem von tagespolitischen Auseinandersetzungen, so zum Beispiel von Abstimmungs- und Wahlkämpfen, oder von Konjunkturen der veröffentlichten Meinung mitgeprägt. Deshalb reichen Seitz' Meinung nach statistische Auswertungen von Abstimmungsergebnissen nicht aus, um regional und historisch unterschiedliche politische Kulturen zu analysieren. Er fordert beispielsweise, die Abstimmungsstatistik durch Untersuchungen von Wahl- und Abstimmungskampagnen zu ergänzen.

Seitz' methodische Ansprüche an eine Analyse aggregierter Abstimmungsergebnisse gehen sehr weit und sind hoch. Damit dürfte zusammenhängen, dass er seinen ursprünglichen Plan aufgab, das Abstimmungsverhalten in den Bezirken des Kantons St.Gallen genauer unter die Lupe zu nehmen. Nur unter günstigsten personellen und finanziellen Bedingungen sind Seitz' Forderungen überhaupt einzulösen. Aber muss aus hohen Ansprüchen folgen, dass man auf die Analyse von Abstimmungsergebnissen verzichtet, solange die günstigen Voraussetzungen nicht gegeben sind? Ich meine nein. Ich denke, dass kreativ vorgehende, theoretisch und historisch fundierte Untersuchungen einiges wett machen können. Seitz' begriffsgeschichtliche und methodenkritische Überlegungen sind dazu ein wesentlicher Baustein. Zudem verlieren sie ihren Stellenwert nicht. Sie mahnen zur Vorsicht und relativieren vorschnelle Schlüsse aus gewagter Zahlenakrobatik.