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Rezension in Schweizerische Zeitschrift für Soziologie (Andreas Ladner) 

Rezension
Schweizerische Zeitschrift für Soziologie, 24/1998, Nr. 2.
Andreas Ladner, Institut für Politikwissenschaft, Universität Bern


«Politische Kultur und ihre Beziehung zum Abstimmungsverhalten. Eine Begriffsgeschichte und Methodenkritik» heisst der Titel des Buches von Werner Seitz. Es handelt sich dabei um eine leichte Überarbeitung seiner Dissertation an der philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern. Seitz, der die Abteilung «Wahlen und Abstimmungen» des Bundesamtes für Statistik leitet, hat neben seiner hauptberuflichen Tätigkeit gut zehn Jahre an diesem Werk gearbeitet, und das Produkt darf sich sehen lassen. Teil 1 der Arbeit widmet sich dem Konzept der politischen Kultur, Teil 2 befasst sich mit der Analyse des Abstimmungsverhaltens.

Dem Autor geht es – so seine Absichtserklärung (S. 20) – in diesem Werk nicht darum, ein weiteres neues Konzept der politischen Kultur zu entwickeln. Vielmehr will er die bestehenden auf ihre Grenzen und Leistungsfähigkeit analysieren. Das Buch liefert auch keine akribische Übersicht über die verschiedenen Definitionen und Interpretation von politischer Kultur, sondern versucht, Entstehung, Entwicklung und unterschiedliche Ausprägungen des Begriffs herauszuarbeiten. Es versteht sich als Werk gegen die weit verbreitete, lockere Anwendung des Konzepts, welche, nicht zuletzt auch in der Abstimmungsforschung, Abstimmungsergebnisse teilweise vorschnell als Indikatoren der politischen Kultur missbraucht.

Der umfassendere erste Teil setzt ein mit der Suche nach den Gründen für die unterschiedliche Verwendung des Begriffs der «politischen Kultur». Dabei werden idealtypisch mit dem deutschen, dem systemtheoretischen und dem marxistischen Kulturbegriff drei grundlegend verschiedene Auffassungen des Begriffs diskutiert. Zudem wird auf die politischen und wissenschaftstheoretischen Hintergründe des «political culture»-Konzepts, wie es von Almond/Verba in ihrem 1963 publizierten Pionierwerk «The Civic Culture» verwendet wird, eingegangen. Diese detaillierte Darstellung ist sicher ein erstes grosses Verdienst des Werkes. Der Autor zeigt auf, wie die «political-culture»-Forschung aus der Forschungsrichtung «Comparative Politics» hervorgegangen ist, welche sich nicht nur stark an die Systemtheorie und den Behavioralismus anlehnte, sondern auch normativ dahingehend tendierte, die anglo-amerikanischen politischen Systeme als «überlegen» zu betrachten. Diese Sichtweise lässt sich zumindest insofern nachvollziehen, als dass der Zusammenbruch liberal-demokratischer Systeme in Kontinentaleuropa (namentlich vor allem der Weimarer Republik) nicht nur Angst einflösste, sondern auch erklärungsbedürftig war. Ein zentrales Glied dieser Erklärungskette bildete ein systemtheoretisches Entwicklungsmodell, bei dem Säkularisierung und strukturelle Differenzierung Voraussetzung für Stabilität sind. Bei den kontinentaleuropäischen politischen Kulturen haben, gemäss Almond (1956) und seinem Aufsatz «Comparative Political Systems», diese Prozesse nur ungenügend stattgefunden. Immer noch würden sub- und supranationale Aspekte die nationale politische Stabilität gefährden, und die politische Kultur sei nicht ausreichend homogen, säkular und rational abwägend wie etwa die amerikanische.

Was die Stabilitätsthese anbelangt, so haben nicht zuletzt skandinavische Länder, aber auch die Schweiz und Holland gezeigt, dass nicht nur auf zwei Parteien beruhende Konkurrenzsysteme, sondern auch Mehrparteiensysteme politische Stabilität garantieren können. Es ist jedoch vor allem die Vorstellung von der Überlegenheit anglo-amerikanischer Systeme, welche sowohl den «political culture»-Ansatz wie auch die ihn alimentierenden sozialwissenschaftlichen Theorien, die Systemtheorie und den Behavioralismus, in weiten Kreisen der kritischen und linken Sozialwissenschaft diskreditierten. In der Tradition der «political culture»-Konzepte geht Seitz im weiteren auf den Sammelband «Political Culture and Political Development» von Lucian W. Pye und Sidney Verba (1965) und auf die Analyse des Wertewandels ein, dargestellt am berühmten Werk von Ronald Inglehart (1977) «The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles Among Western Publics».

In einem nächsten Schritt wendet sich der Autor der Reaktion der deutschen Politikwissenschaft auf die «political culture»-Forschung zu, welche sich verständlicherweise durch die Stabilitäts- und Überlegenheitsvorstellungen besonders herausgefordert sah. Dabei unterscheidet er eine erste Reihe von Werken aus den 1970er und frühen 1980er Jahren, die zwar die «instrumentell/funktionalistische Einschätzung» des Konzepts der politischen Kultur auf die politische Stabilität teilen, die jedoch die normative Setzung des anglo-amerikanischen Entwicklungsmodells als Bezugssystem ablehnen. Exemplarisch hierfür steht Lehmbruch (1967) und sein vielbeachtetes Werk «Proporzdemokratie. Politisches System und politische Kultur in der Schweiz und in Österreich». Lehmbruch bezeichnet, was die Fähigkeit zur politischen Konfliktregelung anbelangt, die Proporz- und Konkordanzsysteme der Schweiz und Österreichs als den anglo-amerikanischen ebenbürtig. Weitere Autoren, die in diesem Zusammenhang diskutiert werden, sind Jakob Schissler, Franz Urban Pappi, Dirk Berg-Schlosser, Peter Reichel, Heide Gerstenberger und Martin und Silvia Greiffenhagen.

Ein zweites Verdienst von Seitzs Arbeit ist die Hervorhebung des Paradigmawechsels im Umgang mit dem Konzept der politischen Kultur in der deutschen Politikwissenschaft in den 1980er Jahren. Nicht mehr die kritische Auseinandersetzung mit den «founding fathers» des Konzeptes, sondern das Bestreben, einen innerwissenschaftlichen Diskurs über Varianten und Facetten der «Politischen Kultur»-Forschung zu führen, rückt in den Vordergrund. Was ist politische Kultur überhaupt, welches sind ihre massgebenden Einflussfaktoren und wie verändert sie sich? Im Arbeitskreis «Politische Kulturforschung» auf dem Berliner Kongress der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft 1982 erfolgte die «allgemeine Anerkennung» des Konzepts «Politische Kultur». Dabei wurde auf eine wissenschaftstheoretische und methodologisch eindeutige Festlegung verzichtet. Der Begriff beschreibt vielmehr «(...) einen eigenständigen Kontext politikwissenschaftlicher Analyse im Sinne der 'subjektiven' Dimension von Politik. Politik umfasst dabei sowohl das gesellschaftliche Vorfeld und den input-Bereich des politischen Systems ('politics') als auch die zentralen politischen Institutionen ('polities') und konkrete Politikfelder im output-Bereich ('policies')» (S. 256). Ob sich damit der Pudding an die Wand nageln lässt, um hier auf den berühmten Ausspruch von Max Kasse zurückzugreifen, bleibe allerdings dahingestellt. Etwas verallgemeinert gesehen hat seit den 1980er Jahren eine Verlagerung hin zu einem «allgemeinen erklärenden Konzept» der politischen Kultur stattgefunden. Diskutiert werden in dieser Periode Autoren wie die beiden Kanadier David J. Elkins und Richard E. B. Simeon, Peter Reichel, Karl Rohe, Heide Gerstenberger, Hans-Georg Wehling und Hans-Peter Meier-Dallach und Moritz Rosenmund. Sowohl mit Wehling wie auch mit den beiden Zürcher Soziologen Meier-Dallach und Rosenmund wird vor allem auch die Bedeutung der Regionen für die politische Kultur thematisiert.

Damit ist auch die Brücke zum zweiten Teil des Buches, der Analyse des Abstimmungsverhaltens, geschlagen, bei dem regionale Unterschiede – vor allem bei den Aggregatdatenanalysen – eine besondere Rolle spielen. Der zweite Teil ist analytisch etwas weniger tiefschürfend, aber nicht minder lesenswert. Seitz bewegt sich hier in seinem hauptberuflichen Arbeitsfeld. Er gibt einen Überblick über die Volksabstimmungen in der Schweiz und die Erklärungsmodelle und Methoden der Abstimmungsforschung, wobei er vor allem auch Vor- und Nachteile von Aggregat- und Individualdatenanalysen hervorhebt. Ein drittes grosses Verdienst des Buches liegt in der Nachzeichnung und Diskussion von verschiedenen Schulen der Schweizer Wahl- und Abstimmungsforschung. Was die «ökologische Abstimmungsforschung» anbelangt, so unterscheidet der Autor zwischen der soziologischen Schule der Zürcher Soziologen Rolf Nef, Hans-Peter Meier-Dallach und Rolf Ritschard sowie des Lausanner Soziologen Dominique Joye, die von einem sozialstrukturellen Erklärungsmodell ausgeht, und der historisch-politologischen Schule des Berner Professoren Peter Gilg. Dem steht auf der Ebene der Individualdatenanalysen vor allem die politische Meinungsforschung gegenüber, wie sie in den frühen 1960er Jahren von Gruner eingeführt wurde. Als wichtigstes Instrument der politischen Meinungsforschung bei Wahlen und Volksabstimmungen gelten heute die Vox-Analysen, die, initiiert von der Schweizerischen Gesellschaft für Sozialforschung und dem ehemaligen Forschungszentrum für schweizerische Politik, von den drei Politikwissenschaftsinstituten der Universitäten Bern, Genf und Zürich durchgeführt werden. Die forschungsleitende Fragestellung, ob aufgrund der Ergebnisse der eidgenössischen Volksabstimmungen der vergangenen 120 Jahre Aussagen über die politische Kultur gemacht werden können, führt Seitz zum Schluss, dass sich hierzu vor allem Aggregatsdatenanalysen aufdrängen würden, dass diese jedoch, wegen der nicht immer einfachen Interpretation der Abstimmungsergebnisse (Quellenkritik) und nicht zuletzt auch wegen der Gefahr des ökologischen Fehlschlusses (Methodenkritik), die eigentlichen Inhalte der regionalen politischen Kulturen nur «akzidentiell» erfassen.

Es sei an dieser Stelle die kritische Anmerkung erlaubt, dass der Anspruch, aufgrund der Gesamtheit der Abstimmungsergebnisse regionale politische Kulturen «festzunageln», wohl etwas zu hoch greift und mit allzu lautem «empirischem Rauschen» belastet sein könnte. Die Suche nach der Erklärungskraft des Konzepts der politischen Kultur in ganz spezifischen Abstimmungen, hätte wohl andere Ergebnisse geliefert. Ohne Zweifel erklären beispielsweise grössere Sympathien für direktdemokratische Mitwirkungsmöglichkeiten in der Deutschschweiz oder konfessionelle Präferenzen als Elemente der politischen Kultur bestimmte Abstimmungsentscheide. Die Schlussfolgerung, dass es sich beim Konzept der politischen Kultur um eine Residualkategorie handle, die sich ex ante kaum bestimmen lässt, dürfte vor allem auch den Kultursoziologinnen und -soziologen schwer aufstossen. Politische Kultur kann, muss aber nicht in jedem Fall für den Abstimmungsentscheid verantwortlich sein. Zudem ist bei Abstimmungsanalysen der Erklärungsgehalt struktureller Variablen ebenfalls relativ dürftig und hat in letzter Zeit wohl eher noch abgenommen. Es ist letztlich sicher einfacher vorherzusagen, wie die Anhängerschaft von Blochers AUNS in gewissen Sachfragen stimmen wird, als vorauszusehen, welcher Partei Arbeiterinnen und Arbeiter ihre Stimme geben werden. Und sind nicht vielleicht gerade deshalb die SVP und die SP zur Zeit so erfolgreich, weil es ihnen gelungen ist, nicht nur Interessen und konkrete Anliegen zu vertreten, sondern in ihrer Anhängerschaft so etwas wie eine Basis für eine gemeinsame politische Kultur zu schaffen, respektive kulturelle Elemente zu mobilisieren?

Eine abschliessend Würdigung der Arbeit von Seitz fällt jedoch ohne Zweifel sehr positiv aus. Das Buch ist klar strukturiert. Es bewegt sich, sowohl was den analytischen Gehalt und die sprachliche Abfassung wie auch was die herausgeberischen Qualitäten des Verlags «Realotopia» anbelangt, deutlich über dem Dissertationsstandard. Die sich wiederholenden Einleitungen, Absichtserklärungen und Zusammenfassungen führen zwar teilweise zu Redundanzen, die den Lesefluss stören mögen, sie machen das Werk jedoch zu einem hervorragenden Arbeitsinstrument, welches es erlaubt, an verschiedenster Stelle direkt in die Problematik einzusteigen. Wer immer in seinen Arbeiten auf die politische Kultur zu sprechen kommt, dem sei die Lektüre wärmstens empfohlen. Er oder sie riskiert dabei höchstens, dass eine allfällige Leicht(sinn)igkeit im Umgang mit dem Begriff verloren geht.